Spartacist (deutsche Ausgabe) Nummer 28 |
Herbst 2011 |
Vorwort zur Grundsatzerklärung der IKL
Ende 2010 beschloss die VI. Konferenz der Internationalen Kommunistischen Liga (Vierte Internationalisten) eine Reihe von Änderungen an der „Grundsatzerklärung und einigen Elementen des Programms“ der IKL, die 1998 von der III. IKL-Konferenz angenommen wurde. Wir befolgen die Praxis unserer marxistischen Vorgänger bei erforderlichen Erweiterungen oder Ergänzungen von historischen Dokumenten der revolutionären Arbeiterbewegung, indem wir diese Änderungen als Vorwort bringen und nicht als überarbeitete Version der Erklärung.
Die wichtigste Änderung betrifft die 2007 von der V. IKL-Konferenz angenommene Position, dass wir grundsätzlich nicht für Regierungsposten des kapitalistischen Staates kandidieren. Dies ist eine logische Erweiterung der Position in Punkt 11 der Grundsatzerklärung: „Parlamentarische Regierungen, die von reformistischen Arbeiterparteien gebildet werden (,bürgerliche Arbeiterparteien‘, wie Lenin sie definierte), sind kapitalistische Regierungen, die die kapitalistische Herrschaft verwalten…“ Die grundsätzliche Scheidelinie zwischen Reform und Revolution ist die Haltung zum bürgerlichen Staat – d. h. einerseits die reformistische Ansicht, man könne den bestehenden Staatsapparat übernehmen und im Interesse der Arbeiter verwalten, und andererseits das leninistische Verständnis, dass der kapitalistische Staat durch eine proletarische Revolution zerschlagen werden muss. Marxisten können durchaus für Posten im bürgerlichen Parlament kandidieren und dort als Oppositionelle arbeiten, wo sie als Volkstribun mit revolutionärer Propaganda auftreten. Die Kandidatur für Exekutivämter hingegen wirft das Problem auf, dass dadurch die vorherrschenden und reformistischen Auffassungen vom Staat legitimiert werden – selbst wenn man, wie wir es vor 2007 taten, vorher erklärt, man werde solche Ämter im Falle eines Wahlsiegs nicht annehmen. In unserem Artikel „Nieder mit Exekutivämtern des kapitalistischen Staates! Marxistische Prinzipien und Wahltaktik“ (Spartacist, deutsche Ausgabe Nr. 27, Frühjahr 2009) gehen wir ausführlich auf die historische Entwicklung dieses Verständnisses ein und zeigen, wie es sich von den Praktiken unserer leninistischen und trotzkistischen Vorgänger unterscheidet – Praktiken, die zum Teil einer unvollständigen und unklaren Diskussion zur Frage des Parlamentarismus auf dem II. Weltkongress der Kommunistischen Internationale (KI) 1920 entsprangen. Im Dokument der V. IKL-Konferenz hielten wir fest: „Die von uns nun angenommene Position gegen das Aufstellen von Kandidaten für die Exekutive des bürgerlichen Staates zieht explizit die logische Konsequenz aus Lenins Staat und Revolution und Die proletarische Revolution und der Renegat Kautsky – Schriften, die wirklich als die Gründungsdokumente der Kommunistischen Internationale gelten sollten… In diesem Sinne vervollständigen wir weiterhin die theoretische und programmatische Arbeit der ersten vier Weltkongresse der KI.“
Die zweite Ergänzung der Grundsatzerklärung betrifft die verbliebenen bürokratisch deformierten Arbeiterstaaten, wo wir jetzt neben China, Nordkorea, Vietnam und Kuba auch Laos dazu zählen. Während des Vietnamkriegs erhoben wir im Gegensatz zu allen Spielarten des kleinbürgerlichen Pazifismus, der Klassenzusammenarbeit und des stalinistischen Nationalismus die Forderung: „Ganz Indochina muss kommunistisch werden!“ Mit der Eroberung von Saigon durch die Truppen der Demokratischen Republik (Nord-)Vietnam und der südvietnamesischen Nationalen Befreiungsfront siegte die Vietnamesische Revolution über den US-Imperialismus und sein südvietnamesisches Marionettenregime der Kapitalisten und Großgrundbesitzer. Als die aufständischen Guerillakämpfer des auf Bauern gestützten, von Stalinisten geführten Pathet Lao einige Wochen später die Staatsmacht in Laos übernahmen, schrieben wir in der Jugendzeitung der Spartacist League/U.S.: „Ein von den Stalinisten geschaffener Staat in Laos würde angesichts seiner überwiegend feudalen und sogar vorfeudalen, auf Stammesbeziehungen beruhenden Produktionsverhältnisse dazu neigen, sich auf den sozialen Charakter der benachbarten und fortgeschritteneren deformierten Arbeiterstaaten Vietnam und China zu stützen und deren sozialen Charakter selbst anzunehmen“ (Young Spartacus Nr. 33, Juni 1975). In den folgenden Jahren versäumten wir es jedoch, die Einsicht ausdrücklich festzuhalten, dass Laos ein deformierter Arbeiterstaat geworden war, und zwar mit dem Sieg der Indochinesischen Revolution. Die laotischen Kommunisten unterhielten schon immer enge Beziehungen zu ihren Genossen in Vietnam. In Verbindung mit dem vergleichsweise mächtigeren und wirtschaftlich fortgeschritteneren deformierten Arbeiterstaat Vietnam und unter dessen Einfluss gingen die laotischen Stalinisten, sobald sie an der Macht waren, daran, ein Regime zu errichten, das auf proletarischen Eigentumsformen basierte.
Punkt 3 der Grundsatzerklärung erwähnt „unsere aktive Intervention für die revolutionäre Wiedervereinigung Deutschlands“ 1989/90 und betont zu Recht die entscheidende Bedeutung unseres Kampfes gegen die kapitalistische Konterrevolution im Land der Oktoberrevolution, der Sowjetunion. Unser Kampf für die proletarisch-politische Revolution gegen die schließlich siegreichen Kräfte der kapitalistischen Wiedervereinigung mit Westdeutschland stellt die größte und anspruchsvollste Intervention in der Geschichte unserer Tendenz dar. 1992 stellten wir im Dokument der II. Konferenz der IKL bei der Auswertung der DDR-Intervention fest: „Obwohl geprägt durch das Missverhältnis von Kräften, gab es eigentlich einen Wettstreit zwischen dem IKL-Programm der politischen Revolution und dem stalinistischen Programm von Kapitulation und Konterrevolution“ (Spartacist, deutsche Ausgabe Nr. 15, Frühjahr 1993).
Bei dieser Gelegenheit wollen wir auch Korrekturen an einigen impressionistischen Erklärungen in der Grundsatzerklärung zusammenfassen, die wir bereits zuvor kodifiziert haben. Der Verweis auf die „ ,Marktreform‘-Konterrevolution in China“ in Punkt 3 verquickt die Einführung solcher Maßnahmen mit einer bevorstehenden kapitalistischen Konterrevolution. Im Einklang damit argumentierten wir, die chinesische stalinistische Bürokratie habe „die gesamte Zerstörung der staatlichen Industrie im Visier. Das bedeutet die Abwicklung von allem, was von der Planwirtschaft des deformierten Arbeiterstaats noch übrig geblieben ist.“ Tatsächlich ist China, trotz massiven Eindringens kapitalistischen Eigentums, nach wie vor ein deformierter Arbeiterstaat, in dem der industrielle und finanzielle Kern der Wirtschaft auf kollektiviertem, staatlichem Eigentum basiert. Als eine zerbrechliche, parasitäre Kaste, die auf dem vergesellschafteten Eigentum thront, ist die stalinistische Bürokratie unfähig, den Kapitalismus von oben stufenweise wiedereinzuführen. Früher oder später jedoch wird die Bürokratie zersplittern, und dann werden sich die Alternativen – Wiederherstellung des Kapitalismus oder proletarisch-politische Revolution – in ganzer Schärfe entgegenstehen.
Ferner übertreibt Punkt 7 der Grundsatzerklärung die Bedeutung zentristischer, anarchistischer und syndikalistischer Strömungen in der nachsowjetischen Periode. Als Trotzki 1934 „Der Zentrismus und die IV. Internationale“ schrieb, erzeugten die durch die Weltwirtschaftskrise hervorgerufene Radikalisierung innerhalb der Arbeiterbewegung und der durch Hitlers Machtergreifung 1933 deutlich gewordene Bankrott der stalinisierten Komintern bedeutende linkszentristische Strömungen in den sozialdemokratischen Parteien. Im gegenwärtigen politischen Spektrum hingegen gibt es kaum zentristische Strömungen im klassischen Sinne, d. h. Organisationen, die politisch in Bewegung sind, indem sie sich entweder vom Reformismus nach links losreißen oder vom revolutionären Standpunkt nach rechts zum Reformismus gehen. Die überwältigende Mehrheit unserer Opponenten in der Linken besteht heute aus eingeschworenen Reformisten, Gegnern der internationalen revolutionären Arbeiterbewegung. Das politische Markenzeichen der heutigen Anarchisten, die in Wirklichkeit kleinbürgerliche Liberale sind, ist gleichfalls nicht Abscheu vor parlamentaristischem und klassenversöhnlerischem Verrat des Stalinismus und der Sozialdemokratie, sondern glühender Antikommunismus. Anders als zur Zeit der Russischen Revolution gibt es in der heutigen Arbeiterbewegung auch keine wirklich antiparlamentarische, revolutionär-syndikalistische Strömung.
Zum Schluss stellen wir fest, dass folgende Behauptung in Punkt 10 etwas irreführend und ahistorisch ist: „Das Versäumnis der Partei der Bolschewiki, die Bestätigung von Trotzkis Theorie der permanenten Revolution durch die Oktoberrevolution ausdrücklich anzuerkennen und die ,demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft‘ ausdrücklich zurückzuweisen, wurde dann für die Kräfte, die sich später als die bolschewistische ,alte Garde‘ aufspielten (z. B. Stalin), zum Einfallstor für ihre Angriffe auf Trotzki…“ Erstens, in der Zeit, als Lenin die bolschewistische Partei führte, war es allgemein anerkannt, dass der Verlauf der Revolution Trotzkis Theorie der permanenten Revolution und der damit übereinstimmenden Perspektive Lenins in seinen „Aprilthesen“ 1917 entsprach. Außerdem ist die Annahme idealistisch, Revolutionäre könnten einfach durch das Festschreiben einer korrekten Theorie dem Revisionismus in einer späteren reaktionären Periode einen Riegel vorschieben. In The Stalin School of Falsification [Die Stalinsche Fälscherschule] erklärte Trotzki später, dass die konservative, bürokratische „Alte Garde“ 1924 bei ihrem Angriff auf den „Trotzkismus“ (also die internationalistischen Prinzipien des Oktobers) durch nichts zurückgehalten wurde, was er oder Lenin 1917 geschrieben oder getan hatten. Wie Trotzki auch schrieb, siegte die thermidorianische Reaktion über „die Opposition, die Partei und Lenin – nicht mit Ideen und Argumenten, sondern durch ihr eigenes soziales Schwergewicht. Das bleierne Hinterteil der Bürokratie wog schwerer als der Kopf der Revolution“ (Verratene Revolution, 1936).
Marxisten dagegen legen Wert auf revolutionäre Kontinuität und programmatische Klarheit, im Gegensatz zu den einstigen Stalinisten und anderen Revisionisten, denen sich heute unzählige in der virtuellen Realität des Cyberspace verkrochene Stümper und politische Banditen zugesellen und die zugunsten der Anpassung an veränderte opportunistische Gelüste ihre widersprüchlichen programmatischen Positionen und sogar vorgebliche Prinzipien beliebig auswechseln. Deswegen veröffentlicht die IKL gebundene Ausgaben unserer früheren Publikationen – was einzigartig unter linken Organisationen ist. Wir streben danach, offen und klar darzustellen, wann und wo wir im Lichte späterer Erfahrungen oder neuer Untersuchungen frühere Positionen verbessert oder zurückgewiesen haben, die unzureichend oder falsch waren. Diese Herangehensweise ist entscheidend und unerlässlich für unsere Verantwortung, das kollektive Gedächtnis des internationalen Proletariats lebendig zu halten.
– Dezember 2010