Spartacist (deutsche Ausgabe) Nummer 28

Herbst 2011

 

M. N. Roy: Nationalistischer Menschewik

ÜBERSETZT AUS SPARTACIST, ENGLISCHE AUSGABE NR. 62, FRÜHJAHR 2011

In der britischen Zeitschrift Revolutionary History erschien eine begeisterte Rezension über Tomorrow Is Ours: The Trotskyist Movement in India and Ceylon, 193548 [Die Zukunft gehört uns: Die trotzkistische Bewegung in Indien und Ceylon, 1935–48] von Charles Wesley Ervin. Besonders herausgehoben wird dabei Ervins „hervorragender Abschnitt (S. 29–38) über den vernachlässigten indischen Marxisten M. N. Roy“ (Revolutionary History Bd. 9, Nr. 4). In Wirklichkeit behandelt Ervin diesen pseudomarxistischen Abenteurer, der in der Bucharinschen Rechten Opposition seit deren Gründung 1928 eine prominente Rolle spielte, mit einer spießbürgerlichen Götzenverehrung ganz im Geiste bürgerlich-akademischer Untersuchungen zum indischen Kommunismus, in denen Roy übrigens alles andere als vernachlässigt wird. Roy verkörperte den revisionistischen Versuch, Kommunismus und Nationalismus zu verschmelzen – das war das Kennzeichnende an ihm, was ihn für solche Leute gerade attraktiv macht. Roys Bestrebungen machten ihn zu einem gewöhnlichen Demokraten, der die bürgerliche Ideologie des Nationalismus, wenn auch mit kommunistischer Färbung, propagierte, und somit zum Gegner des Kampfes für eine leninistische Avantgardepartei, deren Grundlage der proletarische Internationalismus ist.

Ungeachtet ihrer gelegentlichen Versuche, sich als „Trotzkisten“ auszugeben, hat der bunte Haufen von Labour-freundlichen Linken, die Revolutionary History herausgeben, seit langem das Banner des Rechtskommunismus hochgehalten, um den „linken Flügel des Machbaren“ zu rechtfertigen. Sie tun die bolschewistische Revolution von 1917 als ein abwegiges historisches Ereignis ab – bestenfalls als gescheitertes Experiment – und liefern im Stil von Rechtsverdrehern aalglatte Argumente, die den Verrat an revolutionären Gelegenheiten anderswo schönreden. Zu diesem Zweck schloss Revolutionary History Heinrich Brandler in ihr Herz, den Führer der Kommunistischen Partei Deutschlands während der gescheiterten Revolution von 1923 und späteren Führer der Internationalen Rechten Opposition, und stellte der spanischen POUM (Arbeiterpartei der Marxistischen Einheit) des einstigen Linksoppositionellen Andrés Nin einen Persilschein aus. Als Nin am Vorabend des spanischen Bürgerkriegs mit dem Rechtskommunisten Joaquin Maurín zur zentristischen POUM fusionierte, versetzte er den Aussichten auf die Schmiedung einer leninistischen Avantgardepartei in Spanien den Todesstoß. (Siehe dazu auch „Eine trotzkistische Kritik: Deutschland 1923 und die Komintern“ und „Trotzkismus kontra Volksfrontpolitik im Spanischen Bürgerkrieg“, Spartacist, deutsche Ausgaben Nr. 22 und Nr. 27, Sommer 2001 und Frühjahr 2009).

Ervin beginnt sein Plädoyer für Roy auf übliche akademisch-nationalistische Weise, indem er Roy fälschlich als linken Kritiker Lenins in der Diskussion über die nationale und koloniale Frage auf dem II. Weltkongress der Kommunistischen Internationale (KI) 1920 darstellt. Glaubt man Ervin, so war Roy weitblickend genug, für Trotzkis Theorie der permanenten Revolution im kolonialen Osten einzutreten. Ervin behauptet, Roy habe „ein ,menschewistisches‘ Modell für Indien abgelehnt“, während Lenin laut Ervin darauf bestanden habe, „dass die Bourgeoisie Asiens in der Weltgeschichte noch immer eine revolutionäre Rolle zu spielen hat. Wie wir gesehen haben, hatte er diese Auffassung in der Periode vor dem Ersten Weltkrieg entwickelt, als er noch ein linker Sozialdemokrat war“ (Tomorrow Is Ours). Ervin fährt fort: „Allem Anschein nach zeigte sich Lenin bereit, einige seiner Annahmen“ im Lichte von Roys Kritik „zu überdenken“.

Was die koloniale Frage auf dem II. Weltkongress betrifft, so war es Lenins Hauptanliegen, innerhalb der Arbeiterbewegung der fortgeschrittenen kapitalistischen Länder eine harte Linie gegen den Sozialimperialismus der Zweiten Internationale zu ziehen. Wie wir bereits früher bemerkten (siehe „Die Ursprünge des chinesischen Trotzkismus“, Spartacist, deutsche Ausgabe Nr. 19, Winter 1997/98), war die proletarische Bewegung in der kolonialen Welt damals neu und klein; es war überhaupt nicht klar, welche Rolle die gerade erst entstehenden nationalen Bourgeoisien im Kampf um nationale Befreiung spielen würden, und auch nicht, ob das Programm der permanenten Revolution, das sich im zaristischen Russland bestätigt hatte, auf Länder wie China oder Indien anwendbar war. So befassten sich die von Lenin vorgelegten Thesen nur in groben Umrissen mit der Beziehung zwischen Kommunistischen Parteien und bürgerlich-nationalistischen Bewegungen. Doch Lenins Thesenentwurf, der ohne substanzielle Änderungen angenommen wurde, beharrte kategorisch auf proletarischer Klassenunabhängigkeit: „Die Kommunistische Internationale muss ein zeitweiliges Bündnis mit der bürgerlichen Demokratie der Kolonien und der zurückgebliebenen Länder eingehen, darf sich aber nicht mit ihr verschmelzen, sondern muss unbedingt die Selbständigkeit der proletarischen Bewegung – sogar in ihrer Keimform – wahren“ („Entwurf der Thesen zur nationalen und zur kolonialen Frage“, Juni 1920).

Was Lenin von Roy übernahm, war die Bezeichnung „national-revolutionär“ anstatt „bürgerlich-demokratisch“ in Bezug auf Bewegungen in den Kolonien, die man unterstützen konnte. Für Lenin gab es hier aber keinen programmatischen oder grundsätzlichen Unterschied, da „jede nationale Bewegung nur eine bürgerlich-demokratische sein kann, denn die Hauptmasse der Bevölkerung in den zurückgebliebenen Ländern besteht aus Bauern, die Vertreter bürgerlich-kapitalistischer Verhältnisse sind“ („Bericht der Kommission für die nationale und die koloniale Frage“, 26. Juli 1920). So viel zu Lenins angeblichem „Überdenken“ seiner vermeintlich „links-sozialdemokratischen“ Ansichten!

Bei seinem Versuch, Roys Ansehen auf Kosten Lenins aufzupolieren, verschweigt Ervin völlig die Tatsache, dass es Roy war, der sich im Laufe der Diskussion genötigt sah, „einige seiner Annahmen zu überdenken“. Besonders richtete sich die Kritik gegen Roys Behauptung, dass Europas Proletariat durch den Imperialismus so sehr korrumpiert sei, dass es vor der kolonialen Revolution die Macht nicht erobern könnte. Ursprünglich behauptete Roy in seinen Ergänzungsthesen, geschrieben als Deutschland mitten in einem revolutionären Aufruhr steckte und proletarische Kämpfe ganz Europa erfassten: „Ohne das Auseinanderbrechen des Kolonialreiches scheint der Sturz des kapitalistischen Systems in Europa unmöglich zu sein“ (Workers of the World and Oppressed Peoples, Unite! – Proceedings and Documents of the Second Congress, 1920 [Arbeiter aller Länder und unterdrückte Völker, vereinigt euch! – Protokolle und Dokumente des II. Kongresses, 1920], Pathfinder, New York, 1991). Bemerkenswerterweise war es in der Diskussion der Delegierte der Kommunistischen Partei des Iran, Ahmed Sultanzadeh, der Roys Vorurteile gegenüber dem westeuropäischen Proletariat am energischsten konterte: „Folgt daraus nicht, dass das Schicksal des Kommunismus in der ganzen Welt von dem Siege der sozialen Revolution im Orient abhängt, wie Genosse Roy versichert? Gewiss nicht“ (Protokoll des II. Weltkongresses der Kommunistischen Internationale, Reprint, Erlangen, 1972). Sultanzadeh fügte hinzu: „Die Revolution, die im Westen begonnen hat, hat auch in Persien und der Türkei den Boden heiß gemacht und den Revolutionären Kraft verliehen“ (ebd.). Roy war kein früher Vertreter der permanenten Revolution, sondern der maoistischen/guevaristischen Vorstellung von der Einkreisung der imperialistischen „Metropolen“ durch die „Dörfer“ der „Dritten Welt“.

Roys Thesenentwurf wurde vom Weltkongress in stark geänderter Form angenommen, wobei auch wiederholte Behauptungen gestrichen wurden, dass die kolonialen Massen bereits dabei seien, von den bürgerlichen Nationalisten in Richtung revolutionärer Politik zu brechen – und das zu einer Zeit, als es noch nicht einmal die (nur kurze Zeit bestehende) Gruppe indischer Kommunisten im Ausland gab, die erst einige Monate nach dem II. Weltkongress im sowjetischen Taschkent gegründet wurde. Wie so mancher Neuankömmling in der Bewegung hatte auch Roy übertriebene Erwartungen, dass der Kommunismus unmittelbar bevorstehe, und konnte nicht begreifen, wie mühsam die Schmiedung einer Partei ist, die die arbeitenden Massen an die Macht bringen könnte – eine Lektion, die Lenin am Vorabend des Kongresses mit der Schrift Der „linke Radikalismus“, die Kinderkrankheit im Kommunismus zu vermitteln versuchte.

Als seine naiv-optimistischen Erwartungen der Realität nicht standhielten, ging Roy von der Bagatellisierung des Masseneinflusses des bürgerlichen Nationalismus zur Anpassung an diesen über. Ervin behauptet, Roy habe „natürlich vollkommen Recht gehabt“, als er auf dem IV. Weltkongress der KI im November/Dezember 1922 argumentierte, dass die koloniale Bourgeoisie letztendlich zu einer konterrevolutionären Kraft werden muss (Tomorrow Is Ours). Ervin weist natürlich nicht darauf hin, dass Roy diese banale Beobachtung im Zusammenhang mit seiner uneingeschränkten Unterstützung der auf dem IV. Weltkongress beschlossenen „antiimperialistischen Einheitsfront“ machte. Diese sah für die koloniale Revolution implizit ein menschewistisches Zwei-Etappen-Programm vor, dessen erste Etappe ein demokratischer Kampf gegen den Imperialismus, in einem politischen Block mit dem bürgerlichen Nationalismus, war. Wie wir in unserem Artikel „Die Ursprünge des chinesischen Trotzkismus“ bemerkten, war es ein steiler Abstieg von den opportunistischen Impulsen der noch revolutionären Komintern des IV. Weltkongresses bis zum völligen, katastrophalen Verrat an der Chinesischen Revolution von 1925–27 durch die Komintern unter Stalin/Bucharin. Als Folge der politischen Konterrevolution 1923/24 in der Sowjetunion wurde die KI zunehmend von einer Partei der Weltrevolution in ein Instrument für Stalins diplomatische Manöver verwandelt. In dieser einen bedeutenden programmatischen Frage stand Roy sogar rechts von den Thesen des IV. Weltkongresses.

Ohne Erklärung räumt Ervin ein, Roy habe, „nachdem er die Notwendigkeit betont hatte ‚unsere Parteien in diesen Ländern zu entwickeln‘, ziemlich verschwommen hinzugefügt, nur ,eine politische Partei, die die Arbeiter und Bauern vertritt‘, könne ,den Endsieg‘ sicher stellen“ (Tomorrow Is Ours). Ervin fährt fort: „Nach dem IV. Weltkongress verfolgte Roy für Indien die Strategie der Volkspartei“ und „begann mit dem Gedanken zu spielen, ob nicht andere Klassen dazu gebracht werden könnten, die Revolution in Gang zu bringen“. Tatsächlich rief Roy schon in den Monaten vor dem IV. Weltkongress zu einer Arbeiter- und Bauernpartei in Indien auf und vermengte die Interessen des Proletariats und der Bauernschaft, als er zum Beispiel schrieb: „Die Führung des nationalen Kampfes muss von einer Massenpartei übernommen werden, die bewusst die unmittelbaren wie auch langfristigen Interessen der Arbeiter und Bauern vertritt“ („Wanted a New Party“, Oktober 1922, Selected Works of M. N. Roy, Oxford University Press, 1987). In dieser Frage war Roy wirklich weitsichtig, indem er die Linie vorwegnahm, die später von Stalin und Bucharin mit katastrophalen Folgen verbreitet wurde.

In seiner scharfsinnigen Entlarvung der stalinistischen Degeneration der Komintern nahm Trotzki 1928 die antimarxistische Vorstellung einer „Zwei-Klassen“-Partei auseinander:

„Der Marxismus hat stets gelehrt, und der Bolschewismus hat es übernommen, dass Bauernschaft und Proletariat zwei verschiedene Klassen sind, dass jede Gleichsetzung ihrer Interessen in der kapitalistischen Gesellschaft eine Lüge ist und dass der Bauer der Kommunistischen Partei nur dann beitreten kann, wenn er von seinem Eigentümerstandpunkt zum Standpunkt des Proletariats übergeht…

Die berühmte Theorie der ,Arbeiter- und Bauernparteien‘ scheint eigens als Tarnanstrich für jene bürgerlichen Parteien geschaffen zu sein, die gezwungen sind, die Unterstützung der Bauern zu suchen und gleichzeitig auch bereit sind, Arbeiter in ihre Reihen aufzunehmen. Die Kuomintang ist von nun an für alle Zeiten als klassischer Typus einer solchen Partei in die Geschichte eingegangen.“

Die Dritte Internationale nach Lenin (1928)

Unter Roys Leitung baute die Kommunistische Partei Indiens (KPI) schon seit ihrer Gründung im Dezember 1925 eine Arbeiter- und Bauernpartei in Bengalen auf. 1926 bestand Roy darauf, dass die KPI „zwangsläufig eine kleine Sekte ohne politischen Einfluss bleiben“ werde, solange sie nicht selber zu einer Arbeiter- und Bauernpartei würde: nur so könnte sie die Kontrolle über „ein großes revolutionäres Element“ gewinnen, das nicht „ideologisch gerüstet und mutig genug“ sei, „offen einer Kommunistischen Partei beizutreten“ (zitiert in: V. B. Karnik, M. N. Roy: Political Biography, Bombay, Nav Jagriti Samaj, 1978). Bei alledem war es Roys Ziel, den bürgerlichen Indischen Nationalkongress zu übernehmen und ihn zu einer „Volks“- oder „revolutionär-nationalistischen“ Partei auf der Grundlage eines demokratischen Programms für nationale Unabhängigkeit zu machen. Der Historiker John Patrick Haithcox schreibt: „Roy hoffte, dass es den indischen Kommunisten gelingen würde, den scheinbaren Erfolg ihres chinesischen Gegenstücks bei der Arbeit innerhalb der Kuomintang zu wiederholen“ (Haithcox, Communism and Nationalism in India: M. N. Roy and Comintern Policy, 19201939, Princeton University Press, 1971).

Ervin spielt Roys Eintreten für Zwei-Klassen-Parteien herunter, während er Trotzki sparsam dafür mit Lob bedenkt, dass er sich 1928 in dieser Frage gegen Stalin und Bucharin stellte. Typisch für die Schule von Revolutionary History greift Ervin dann zynischerweise Trotzki wegen eines Artikels von 1928 an, in welchem Trotzki angeblich „verspätet einsah, dass die Opposition diese Linie schon viel früher, 1923–25, hätte bekämpfen sollen, als diese noch ausformuliert und versuchsweise angewandt wurde“ (Tomorrow Is Ours). Was Trotzki in diesem Artikel von 1928 einsah, war aber etwas ganz anderes, nämlich:

„Wir haben das Ausmaß des Abrutschens unterschätzt, wie es schon 1924/25 in der analphabetischen Losung der ,kombinierten Arbeiter- und Bauernparteien für den Osten‘ zum Ausdruck kam.“

– „Fehler der Opposition“, Mai 1928

Vor nicht allzu langer Zeit hat Ervin in einem Brief (23. August 2010) Workers Vanguard kritisiert, weil wir es wagten, Roy als „pseudomarxistischen Abenteurer“ zu bezeichnen. Ervin ging so weit, Trotzki und Lenin zu Mitschuldigen an Roys Schema der Zwei-Klassen-Partei zu machen, indem er behauptete, auf dem IV. Weltkongress hätten „weder Lenin noch Trotzki Einwände erhoben“ gegen Roys Aufruf zu einer „Volkspartei“ (siehe: „An Exchange on M. N. Roy“ [Ein Briefwechsel über M. N. Roy], Workers Vanguard Nr. 969, 19. November 2010). Dieses Argument ist, gelinde gesagt, fadenscheinig. Zur Zeit des IV. Weltkongresses war Lenin bereits schwer krank und konnte dort nur eine sehr eingeschränkte Rolle spielen, doch die gesamten Werke Lenins sind voll von Warnungen davor, die Klasseninteressen des Proletariats mit denen der Bauernschaft durcheinander zu bringen. Letzteres gilt auch für Trotzki.

Im Gegensatz zu Ervins Behauptung hat Trotzki die „Zwei-Klassen“-Partei doch bekämpft, und zwar 1924, als sie auf dem amerikanischen Terrain auftauchte. Unter dem Einfluss des nach Amerika umgesiedelten ungarischen Abenteurers John Pepper unterstützten die amerikanischen Kommunisten die Farmer-Labor Party, die zu einem Wahlkampfinstrument für die Präsidentschaftskampagne des bürgerlichen „Progressiven“ Robert La Follette wurde. Hätte Trotzki diesen Kampf nicht geführt, der die Komintern dazu brachte, die amerikanische Partei von der Unterstützung für La Follette abzubringen, hätte dies den frühen Schiffbruch des amerikanischen Kommunismus bedeutet.

Was Roy als pseudomarxistischen Abenteurer angeht, so ist zu erwähnen, dass er 1920 den II. KI-Kongress als Delegierter der Kommunistischen Partei Mexikos (KPM) besuchte, an deren „Gründungskonferenz“ 1919 höchstens sieben Leute teilnahmen: Roy, seine Frau und ein paar Kumpane. Roy gab später zu, vor der „Gründung“ der neuen Partei das Einverständnis des mexikanischen Präsidenten und Hacendado (reicher Landbesitzer) Venustiano Carranza eingeholt zu haben, der schon Roys „Sozialistische Partei“ finanziell unterstützt hatte. Roy erklärte, es sei notwendig gewesen, „der Regierung und den zahlreichen ,Mitläufern‘ des revolutionären Sozialismus zu versichern, dass die großartigen Resolutionen der [Gründungs-]Konferenz keinen echten Bruch mit der Vergangenheit darstellten“, und fügte hinzu: „Die Kommunistische Partei blieb dem revolutionär-demokratischen [d. h. bürgerlichen] Programm der nicht mehr existierenden Sozialistischen Partei treu“ (M. N. Roy’s Memoirs, Bombay, Allied Publishers Private Ltd., 1964).

Ebenso gibt Roy zu, dass er weniger als einen Monat vor der Gründung der KPM dem mexikanischen Arbeitsminister als Berater beim Streikbruch gedient hatte. Und davor lebte Roy von Geldern, gesammelt zum einen bei der deutschen Botschaft, um angeblich Waffen für indische Nationalisten zu kaufen, und zum anderen beim Carranza-Regime. Seinen ausgeklügelten Plan zur Gründung einer „Kommunistischen Partei“, der ebenfalls nicht zwischen dem Proletariat und der Bauernschaft unterschied, hat Roy gemeinsam mit Michail Borodin ausgebrütet. Borodin besuchte damals Mexiko; später sollte er mit Roy bei der Unterordnung des chinesischen Proletariats unter die bürgerlich-nationalistische Guomindang zusammenarbeiten.

Tatsächlich spielte Roy in China eine Schlüsselrolle bei der Durchsetzung von Stalins und Bucharins liquidatorischer Politik. Deren „demokratische“, „antiimperialistische“ Etappe endete im April 1927 mit dem Massaker an Tausenden Kommunisten und anderen Arbeitern in Shanghai durch den Guomindang-Führer Chiang Kai-shek, den Stalin sogar zu einem Ehrenmitglied der Komintern-Exekutive gemacht hatte. Kurz darauf schrieb Trotzki über Roy:

„Die indische Bewegung wird in der Komintern durch Roy repräsentiert. Man konnte wohl dem indischen Proletariat kaum mehr schaden, als es Sinowjew, Stalin und Bucharin durch Roys Vermittlung getan haben. In Indien wie in China wurde und wird die ganze Arbeit auf dem bürgerlichen Nationalismus aufgebaut. Während der ganzen nachleninschen Periode führte Roy Propaganda zur Bildung einer ‚Volkspartei‘, die, wie er sich ausdrückte, ‚weder ihrem Namen, noch ihrem Wesen nach‘ eine Partei der proletarischen Vorhut sein sollte. Das ist die Anpassung der Kuomintang, des Stalinismus, des La Folettismus an die Bedingungen der nationalen Bewegung in Indien. Politisch bedeutet das: durch Roys Vermittlung hält die Komintern dem künftigen indischen Tschiang Kai-schek die Steigbügel. Roys Anschauungen sind eine Mischung von Liberalismus und Volkstümlerei unter der Sauce des Kampfes gegen den Imperialismus… Unnötig zu sagen, dass dieser durch Margarine-Marxismus vergiftete National-Demokrat ein unversöhnlicher Kämpfer gegen den Trotzkismus ist…“

– „Wer leitet heute die Kommunistische Internationale?“ (September 1928)

Als Stalin in der Komintern den Linksschwenk der „Dritten Periode“ durchsetzte, widersetzten sich Bucharin und Roy von rechts. Bucharin kapitulierte bald vor Stalin; Roy wurde im September 1929 aus der KI ausgeschlossen. Nach seiner Rückkehr nach Indien im Dezember 1930 machte es sich Roy, der aus der Katastrophe in China nichts gelernt hatte, zur Aufgabe, das Proletariat der bürgerlichen Kongresspartei von Mahatma Gandhi [Indian National Congress] unterzuordnen. Zu diesem Zweck fungierten Roy und seine Gruppe als Handlanger für die Nationalisten, indem sie die Kommunisten aus der Führung des Gesamtindischen Gewerkschaftskongresses (AITUC) vertrieben. Im Griff des Sektierertums der „Dritten Periode“ erleichterte die KPI ihrerseits die von den Royisten angeführte antikommunistische Säuberung, indem sie sich vom AITUC, über den sie die Kontrolle verloren hatte, abspaltete, um einen separaten Roten Gewerkschaftskongress zu gründen.

In den folgenden Jahren sollte Roy immer wieder den bürgerlichen Nationalisten seine Treue erweisen. Als die KP Mitte 1934 dazu aufrief, einen militanten Textilarbeiterstreik mit Schwerpunkt in Bombay zu einem landesweiten Generalstreik auszuweiten, widersetzten sich Roys Anhänger und versuchten stattdessen erfolglos, den Streik zu beenden. Ein Jahr später verurteilten die Royisten die Bemühungen der KPI, Gewerkschaften, Bauernverbände und Jugendorganisationen außerhalb des Kongresses aufzubauen, und erklärten dies zu einem Angriff auf die Einheit des Kongresses als der einzigen „Organisation des national-revolutionären Kampfes“ (zitiert in Communism and Nationalism in India).

Nach dem VII. KI-Kongress von 1935, auf dem die „Volksfront“ proklamiert wurde, hatte Roy gehofft, sich dank seiner konsequent rechten Haltung auf Kosten der KPI bei Stalin wieder einzuschmeicheln. So nachsichtig war Stalin nicht. Jedenfalls wurde Roys Anspruch auf Kommunismus immer fadenscheiniger. Als er im November 1936 nach mehr als fünfjähriger Haft aufgrund von Anklagen wegen Aufwiegelei aus den frühen 20er-Jahren aus dem Gefängnis frei kam, brach er sofort auf, um sich mit dem Kongress-Führer Nehru zu treffen. Er versuchte, Nehru dazu zu überreden, seine sozialistische Rhetorik zu mäßigen. Roy erklärte in einem Zeitungsinterview:

„Meine Botschaft an das Volk ist es, sich millionenfach hinter der Fahne des Nationalkongresses zu scharen und für die Freiheit zu kämpfen. Sozialismus oder Kommunismus stehen nicht auf der Tagesordnung, und Sozialisten und Kommunisten sollten erkennen, dass das unmittelbare Ziel die nationale Unabhängigkeit ist.“

– zitiert ebd.

Kaum mehr als drei Jahre später forderte Roy die indischen Massen auf, sich hinter den Union Jack des britischen Imperialismus zu scharen. Nachdem er anfänglich im Zweiten Weltkrieg eine Politik der Neutralität verkündet hatte, rief Roy wenige Monate später zur bedingungslosen Kooperation mit den Briten im Krieg auf. Im Oktober 1940, als die Stalinisten im Rahmen des Hitler-Stalin-Paktes zeitweilig militant antiimperialistisch auftraten, erklärten die Royisten, dass die Mitgliedschaft im Kongress „mit antifaschistischer Überzeugung unvereinbar“ sei, und spalteten sich ab, um die Radikaldemokratische Volkspartei zu gründen (zitiert ebd.). Roy war nicht der einzige Absolvent der Schule der Rechten Opposition, der als erbärmlicher Apologet und Agent des „demokratischen“ Imperialismus enden sollte. In den USA weitete Jay Lovestone seine Unterstützung des „antifaschistischen“ Krieges zum Aufbau eines konterrevolutionären Kaders aus, der von der CIA und der proimperialistischen amerikanischen Gewerkschaftsbürokratie seit Ende der 1940er-Jahre im Kalten Krieg gegen den Kommunismus eingesetzt werden sollte.

Erst die Gründung der Bolschewistisch-Leninistischen Partei (BLPI) 1942 verschaffte dem indischen Proletariat seine eigene Stimme des revolutionären Internationalismus. Die BLPI rief zum revolutionären Defätismus gegenüber beiden imperialistischen Kriegslagern auf, während sie für die bedingungslose militärische Verteidigung des degenerierten Arbeiterstaates Sowjetunion eintrat. Im Gegensatz zur Streikbruchpolitik der Stalinisten und Royisten versuchten die geringen Kräfte des indischen Trotzkismus mit aller Macht, das Proletariat auf unabhängiger Klassengrundlage im Kampf für nationale Unabhängigkeit und sozialistische Revolution zu mobilisieren. 1945 verfasste die BLPI eine Erklärung, die sich gut als Nachruf für den laut Revolutionary History „vernachlässigten indischen Marxisten M. N. Roy“ eignet:

„Stalinismus und Royismus sind sich einig in ihrer Feindschaft gegen die Massenbewegung und den Massenkampf und in ihrer Unterstützung für Imperialismus und imperialistischen Krieg. Sie sind sich auch einig in ihrer Unterstützung für die Sowjetbürokratie – mit dem Unterschied jedoch, dass die Stalinisten den Imperialisten zu Hilfe eilen, weil sie die Sowjetbürokratie unterstützen, während die Royisten der Sowjetbürokratie zu Hilfe eilen, weil sie die Imperialisten unterstützen.“

– „For An Anti-Imperialist Left Front: An Appeal to the Left Forces in the Country“ [Für eine antiimperialistische Linksfront: Ein Appell an die linken Kräfte des Landes], 20. Mai 1945