Spartacist (deutsche Ausgabe) Nummer 25

Früjahr 2006

Russische Revolution und Emanzipation der Frauen

(Frauen und Revolution)

ÜBERSETZT AUS SPARTACIST, ENGLISCHE AUSGABE NR. 59, FRÜHJAHR 2006

„Die ,Befreiung‘ ist eine geschichtliche Tat, keine Gedankentat, und sie wird bewirkt durch geschichtliche Verhältnisse, durch den Stand der Industrie, des Handels, des Ackerbaus, des Verkehrs...“

—Karl Marx und Friedrich Engels,
Deutsche Ideologie (1846)

Heute müssen selbst in den fortgeschrittenen kapitalistischen „Demokratien“ Millionen von Frauen ein Leben in Elend und Plackerei ertragen. Um nur zwei Beispiele frauenfeindlicher Bigotterie zu nennen, so ist in den Vereinigten Staaten das Recht auf Abtreibung zunehmenden Angriffen ausgesetzt, während anständige Kinderbetreuung rar ist und für die meisten arbeitenden Frauen nicht erschwinglich. Die Lage der Frauen in der Dritten Welt ist noch um ein Vielfaches schlimmer. Doch noch vor 15 Jahren genossen Frauen in der Sowjetunion Vorteile, wie staatlich unterstützte Kinderbetreuungseinrichtungen, volles Recht auf Abtreibung, Zugang zu den meisten Branchen und Berufen und ein hohes Maß an wirtschaftlicher Gleichheit gegenüber ihren männlichen Kollegen — kurz gesagt einen Status, der in mancher Hinsicht dem in den heutigen kapitalistischen Gesellschaften weit voraus war.

Die bolschewistische Revolution von 1917 hatte diese Errungenschaften erst möglich gemacht. In den Worten des Historikers Richard Stites war die Russische Revolution nicht ein bloßer kosmetischer Anstrich, sondern sie war vielmehr eine

„klassische soziale Revolution — ein Prozess, nicht ein Ereignis, ein Phänomen, das nicht entfacht, ausgelöst oder vorangetrieben werden kann durch einen bloßen Machtwechsel im politischen Zentrum und das es bei Erlassen und Gesetzen bewenden lässt, die die Prinzipien der Gleichheit verkünden. Eine echte soziale Revolution in einer unterentwickelten Gesellschaft hört nicht mit der Umwälzung der Eigentumsverhältnisse auf, sowenig wie sie mit der Umbesetzung von Ministerposten endet; sie entstammt einer sozialen Mobilisierung. Sie verlangt schlicht und einfach, dass Gruppen mit ausgearbeiteten Plänen, Fertigkeiten und revolutionärer Begeisterung sich unter die Bevölkerung mischen; sie erfordert das Unterrichten, Vorantreiben, Anstacheln, die Überredung der Widerspenstigen, der Unwissenden und der Rückständigen mittels des wichtigsten Bestandteils radikaler Propaganda: der Botschaft und der Überzeugung, dass Revolution für das tägliche Leben von Bedeutung ist.“

— Stites, The Women’s Liberation Movement in Russia: Feminism, Nihilism, and Bolshevism, 1860–1930 [Die Frauenbefreiungsbewegung in Russland: Feminismus, Nihilismus und Bolschewismus, 1860–1930] (Princeton University Press, Princeton, 1978)

Dieser tiefgreifende Versuch einer Erneuerung der Gesellschaft wurde erst möglich durch die Zerschlagung der zaristischen/kapitalistischen Herrschaft und die Eroberung der Macht durch die Sowjets — Arbeiter- und Bauernräte — unter der Führung der Bolschewiki im Oktober 1917. Die Landgüter des Adels wurden aufgelöst und das Land verstaatlicht; die Industrie wurde alsbald kollektiviert. Der neue Arbeiterstaat unternahm die ersten Schritte zur Wirtschaftsplanung im Interesse der Werktätigen. Das brachte den arbeitenden Frauen enorme Vorteile. Die Russische Revolution suchte die Frauen voll am wirtschaftlichen, sozialen und politischen Leben teilhaben zu lassen.

Seit der Konterrevolution, die 1991/92 den Kapitalismus restaurierte, haben sich die Lebensbedingungen für Frauen in der Ex-Sowjetunion erheblich verschlechtert und ähneln weitgehend denen in der Dritten Welt. Massenarbeitslosigkeit, stark zurückgehende Lebenserwartung und das Wiederaufleben religiöser — sowohl russisch-orthodoxer wie auch muslimischer — Rückständigkeit sind nur drei Beispiele. Von 1991 bis 1997 fiel das Bruttoinlandsprodukt um über 80 Prozent; nach offiziellen (beschönigten) Statistiken sanken die Kapitalinvestitionen um über 90 Prozent. Mitte des Jahrzehnts lebten 40 Prozent der Bevölkerung der Russischen Föderation unterhalb der offiziellen Armutsgrenze und weitere 36 Prozent nur knapp darüber. Millionen litten an Hunger.

Frauenbefreiung und sozialistische Weltrevolution

Die Bolschewiki erkannten, dass ohne eine qualitative wirtschaftliche Entwicklung die Befreiung der Frauen ein utopisches Traumbild war. Das frühe bolschewistische Regime versuchte die ihm zur Verfügung stehenden Ressourcen zu maximieren und tat alles in seiner Macht Stehende, um die Hoffnung auf die Befreiung der Frau in die Tat umzusetzen; dazu gehörte die Einrichtung einer Parteiabteilung, die sich den Bedürfnissen der Frauen widmete, das Schenotdel. Doch in seinen Bemühungen war es bei jedem Schritt mit der Tatsache konfrontiert, dass ohne massiven Zustrom von Ressourcen von außen die Ergebnisse auf allen Gebieten beschränkt bleiben würden. Leo Trotzki, zusammen mit W.I. Lenin Führer der Russischen Revolution, erklärte, die Bolschewiki hätten von Anfang an erkannt:

„Die realen Mittel des Staates entsprachen nicht den Plänen und Absichten der kommunistischen Partei. Man kann die Familie nicht einfach âabschaffen‘, man muss sie durch etwas anderes ersetzen. Eine wirkliche Befreiung der Frau ist auf der Basis des âverallgemeinerten Mangels‘ nicht zu verwirklichen. Die Erfahrung bestätigte bald diese bittere Wahrheit, die Marx 80 Jahre zuvor formuliert hatte.“

Verratene Revolution (1936)

Die bittere Armut des ersten Arbeiterstaates der Welt begann mit der vom alten Zarenreich geerbten wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Rückständigkeit. Ausländische Investitionen hatten in den größeren Städten zur Errichtung moderner Fabriken geführt und so ein kompaktes und machtvolles Proletariat geschaffen, das dazu in der Lage war, in einem überwiegend bäuerlichen Land eine Revolution zu machen. Die revolutionären Arbeiter waren in den meisten Fällen nur eine oder zwei Generationen von ihren bäuerlichen Wurzeln entfernt. Die Arbeiter unterstützten ihre Vettern auf dem Lande, wenn diese die Landgüter besetzten und das Land unter denjenigen verteilten, die es bebauten. Das Bündnis (Smytschka) zwischen den Arbeitern und den Bauern war entscheidend für den Erfolg der Revolution. Aber die Masse der Kleinbauern war auch ein Reservoir von sozialer und wirtschaftlicher Rückständigkeit. Die vom Ersten Weltkrieg angerichtete Zerstörung wurde noch verschlimmert durch den blutigen Bürgerkrieg (1918–20), den die bolschewistische Regierung gegen die Armeen der Konterrevolution und der imperialistischen Intervention führen musste und der die Wirtschaft des Landes um Jahrzehnte zurückwarf. Die Imperialisten errichteten auch eine Wirtschaftsblockade und isolierten so die Sowjetunion von der Weltwirtschaft und der weltweiten Arbeitsteilung.

Marxisten waren immer schon der Auffassung, dass, um die Klassengesellschaft und die mit ihr verbundene mannigfaltige Unterdrückung zu beseitigen, ein auf dem höchsten Niveau der Technologie und Wissenschaft beruhender materieller Überfluss auf der Grundlage einer internationalen Planwirtschaft notwendig ist. Die wirtschaftliche Verwüstung und die Isolation des sowjetischen Arbeiterstaats erzeugten einen starken materiellen Druck zur Bürokratisierung. In seinen letzten Lebensjahren führte Lenin, oft zusammen mit Trotzki, eine Reihe von Kämpfen in der Partei gegen die politischen Erscheinungsformen des bürokratischen Drucks. Die Bolschewiki wussten, dass der Sozialismus nur auf weltweiter Grundlage errichtet werden konnte, und sie kämpften dafür, die Revolution international auszuweiten, insbesondere auf die wirtschaftlich fortgeschrittenen kapitalistischen Länder Europas; die Vorstellung, dass der Sozialismus in einem einzigen Land aufgebaut werden könnte, war eine Pervertierung, die später zur Rechtfertigung der bürokratischen Degeneration der Revolution eingeführt wurde.

Anfang 1924 gewann eine bürokratische Kaste unter Stalin die Oberhand über die Kommunistische Partei und den sowjetischen Staat. So kam es nie völlig zu der Gleichberechtigung der Frauen, die sich die Bolschewiki vorgestellt hatten. Die stalinistische Bürokratie gab den Kampf für die internationale Revolution auf und zog die großen Ideale des Kommunismus derart mit bürokratischen Entstellungen und Lügen in den Dreck, dass schließlich 1991/92 die Arbeiterklasse nicht gegen die Auslöschung der Revolution und die Restauration des Kapitalismus unter Boris Jelzin kämpfte.

Die Russische Revolution markierte den Beginn einer gewaltigen Welle revolutionärer Kämpfe, von der die Welt in Auflehnung gegen das Blutbad des Ersten Weltkriegs erfasst wurde. International gab die Oktoberrevolution der Arbeiterklasse einen kräftigen Auftrieb. Deutschland, das mächtigste und fortgeschrittenste kapitalistische Land Europas, stürzte 1918/19 in eine revolutionäre Situation; ein Großteil des übrigen Kontinents befand sich im Aufruhr. Die Bolschewiki warfen die Ressourcen des Sowjetstaates in den Kampf für eine sozialistische Weltrevolution und schufen zu diesem Zweck die Kommunistische Internationale (KI). Doch die jungen Parteien der KI in Europa hatten erst vor kurzem mit der reformistischen Führung der Arbeitermassenorganisationen gebrochen, die im Ersten Weltkrieg ihre jeweilige bürgerliche Regierung unterstützt hatte. So zeigten sie sich unfähig, als revolutionäre Avantgardeparteien im Sinne der Bolschewiki zu handeln. Der reformistischen, prokapitalistischen und zutiefst chauvinistischen Führung der SPD gelang es 1918/19, unter aktiver Mithilfe des Militärs und der Polizei die proletarische Revolution in Deutschland im Keim zu ersticken.

Sozialdemokratische Parteien wie die deutsche SPD und die britische Labour Party tragen historisch die Hauptverantwortung für die Degeneration der Russischen Revolution. Doch sie heulen mit ihren kapitalistischen Herren und Meistern im Chor, dass das junge bolschewistische Regime unter Lenin unausweichlich zu stalinistischer Alleinherrschaft geführt habe, dass der Kommunismus gescheitert sei und die kapitalistische „Demokratie“ gegenüber dem Kommunismus unendlich viele Vorzüge habe. Das plappern ihnen viele der heutigen linken Jugendlichen nach, die Kommunismus mit der stalinistischen Entartung des sowjetischen Arbeiterstaates gleichsetzen. Anarchistisch beeinflusste Jugendliche sind der Ansicht, dass Hierarchie von vornherein unterdrückerisch sei, dass Kleinproduktion, Dezentralisierung und ein „befreites Leben“ auf individueller Grundlage den Weg vorwärts weisen. Dies ist eine Sackgasse.

Trotz des Triumphes der Bürokratenkaste 1924 und der daraus folgenden Degeneration der Russischen Revolution blieben die zentralen Errungenschaften der Revolution — verkörpert durch den Umsturz der kapitalistischen Eigentumsverhältnisse und die Errichtung einer Planwirtschaft — bestehen. Diese Errungenschaften zeigten sich zum Beispiel in der materiellen Lage von Frauen. Daher standen wir von der Internationalen Kommunistischen Liga — wie damals Trotzkis Linke Opposition, die gegen Stalin und die Degenerierung der Revolution gekämpft hatte — für die bedingungslose militärische Verteidigung der Sowjetunion gegen imperialistische Angriffe sowie für einen kompromisslosen Kampf gegen jede Gefahr einer kapitalistischen Konterrevolution, ob von innen oder von außen. Gleichzeitig war uns klar, dass die Bürokratenkaste an der Spitze der UdSSR eine tödliche Bedrohung für den Fortbestand des Arbeiterstaates darstellte. Wir riefen zu einer politischen Revolution in der UdSSR auf, um die Bürokratie zu stürzen, Arbeiterrätedemokratie wiederherzustellen und den Kampf für eine internationale proletarische Revolution zu führen, die für den Aufbau des Sozialismus unentbehrlich ist.

Das Erbe der bolschewistischen Arbeit unter Frauen

In einer ganzen Reihe von Büchern, die in den letzten anderthalb Jahrzehnten erschienen sind, werden die enormen Errungenschaften geschildert, die nach der Russischen Revolution für Frauen erreicht wurden. Die Bolschewiki begannen sofort damit, ein Zivilrecht einzuführen, das jahrhundertealte Eigentumsrechte und männliche Privilegien hinwegfegte. Wendy Goldmans nützliches Buch Women, the State and Revolution: Soviet Family Policy and Social Life, 1917–1936 [Frauen, Staat und Revolution: Sowjetische Familienpolitik und gesellschaftliches Leben, 1917–1936] (Cambridge University Press, Cambridge, 1993) befasst sich vor allem mit den drei Familiengesetzen von 1918, 1926 und 1936, die sie als Wendepunkte der sowjetischen Politik ansieht, kennzeichnend für das Programm der Partei und des Staates zur Frauenfrage. Das Gesetz von 1918, die „fortschrittlichste Familiengesetzgebung, die die Welt je gesehen hat“, wurde ersetzt durch das Gesetz von 1926, das in einer Zeit scharfen politischen Kampfes zwischen der stalinistischen Bürokratie und oppositionellen Strömungen, vor allem Trotzkis Linker Opposition, in Kraft trat. Das Familienrecht von 1936, das die Familie in der offiziellen stalinistischen Ideologie rehabilitierte und die Abtreibung verbot, markierte den gänzlichen Rückzug vom Kampf für die Gleichberechtigung der Frauen unter Stalin.

Goldmans Buch ist nur eine von vielen Publikationen nach 1991, denen der erleichterte Zugang zu den Archiven der ehemaligen Sowjetunion zugute kam. Bei einem weiteren Buch, Bolshevik Women [Bolschewistische Frauen] (Cambridge University Press, Cambridge, 1997) von Barbara Evans Clements, handelt es sich um eine Gruppenbiographie, deren Mittelpunkt eine Auswahl langjähriger Parteimitglieder bildet. Clements hat eine Datenbank von mehreren hundert Frauenkadern der Alten Bolschewiki (Parteimitglieder vor 1917) zusammengestellt, die sie hinsichtlich der Herkunft, Ausbildung und Parteiaktivität auf Gemeinsamkeiten hin untersucht.

Bolshevik Women richtet das Augenmerk vor allem auf prominente Parteimitglieder wie Jelena Stasowa, Mitglied des Zentralkomitees und 1917 ZK-Sekretärin in Petrograd. Eine weitere ist Jewgenia Bosch, die von Victor Serge (der einmal Mitglied der Linken Opposition war und später mit Trotzki brach) als eine der „fähigsten militärischen Führerinnen, die in diesem frühen Stadium [des Bürgerkriegs] hervortraten“, bezeichnet wurde (zitiert in Clements, Bolshevik Women). Bosch beging im Januar 1925 Selbstmord, als die Stalin-Fraktion durch eine Säuberung Trotzki als Volkskommissar für den Krieg absetzte. Noch eine weitere war Lenins enge Freundin und Mitarbeiterin Inessa Armand, die erste Leiterin des Schenotdel bis zu ihrem Tod 1920.

Weniger bekannt sind Konkordija Samoilowa, die ebenfalls ein langjähriger Kader der Partei war und nach 1917 ihre Arbeit auf praktische Einsätze des Schenotdel konzentrierte; Klawdija Nikolajewa, die 1925 wegen ihrer Unterstützung der antibürokratischen Opposition als Leiterin des Schenotdel abgesetzt wurde; Rosalija Semljatschka, die eine überzeugte Bürokratin wurde und als einzige Frau einen Sitz im Rat der Volkskommissare unter Stalin hatte; und Alexandra Artjuchina, die das Schenotdel von 1925 bis zu dessen Auflösung durch Stalin 1930 leitete.

Die Arbeit der Internationalen Kommunistischen Liga unter den Frauen steht in der von Lenins Bolschewiki begründeten Tradition. Einige der frühesten Ausgaben von Women and Revolution brachten Forschungsergebnisse von Dale Ross, der ersten Redakteurin von W&R, zur Russischen Revolution und zur bolschewistischen Arbeit unter Frauen, basierend auf ihrer Dissertation: The Role of the Women of Petrograd in War, Revolution and Counterrevolution, 1914–1921 [Die Rolle der Frauen Petrograds in Krieg, Revolution und Konterrevolution, 1914–1921] (1973). In der zweiten und dritten Nummer von W&R (September/ Oktober 1971 und Mai 1972) veröffentlichten wir in zwei Teilen die von den Bolschewiki verfassten „Methoden und Formen der Arbeit unter den Frauen der Kommunistischen Partei“ vom Dritten Weltkongress der Kommunistischen Internationale (1921). Die inzwischen verfügbaren Informationen haben unsere Solidarität mit dem bolschewistischen Weg zur Emanzipation der Frauen weiter bestärkt und bereichert.

In späteren Ausgaben von W&R erforschten wir weitere Aspekte des Kampfes für Frauenbefreiung in der UdSSR. Von besonderer Bedeutung ist der Artikel „Early Bolshevik Work Among Women of the Soviet East“ [Frühe bolschewistische Arbeit unter Frauen des sowjetischen Ostens] (W&R Nr. 12, Sommer 1976). Dieser Artikel führte detailliert aus, welche heroischen Anstrengungen die bolschewistische Regierung unternahm, um die Lebensbedingungen der entsetzlich unterdrückten Frauen im muslimischen Zentralasien zu verändern. So legten Schenotdel-Aktivistinnen selbst den Schleier an, um diese abgesonderten Frauen zu erreichen. Es würde den Rahmen dieses Artikels sprengen, sich mit diesem wichtigen Thema zu beschäftigen.

Marxismus kontra Feminismus

Für Marxisten liegt die besondere Unterdrückung der Frauen in der Klassengesellschaft selbst begründet und kann nur durch die Abschaffung des Privateigentums an den Produktionsmitteln beseitigt werden. Der Zustrom der Frauen ins Proletariat eröffnet den Weg zur Befreiung: Ihre Stellung direkt in der Produktion gibt ihnen zusammen mit ihren männlichen Kollegen die soziale Macht, das kapitalistische System zu stürzen und die Grundlage zu schaffen für die gesellschaftliche Unabhängigkeit der Frauen von der Institution der Familie, die sie einengt. Der Marxismus unterscheidet sich vom Feminismus vor allem in der Frage, was die Haupttrennlinie in der Gesellschaft ist: Feministinnen sind der Ansicht, dass es der Gegensatz zwischen Männern und Frauen ist; für Marxisten ist es der Klassengegensatz, d. h. Ausbeuter gegen Ausgebeutete. Eine Arbeiterin hat mit ihren männlichen Kollegen mehr gemeinsam als mit einer Chefin, und die Emanzipation der Frauen ist die Aufgabe der Arbeiterklasse insgesamt.

Die marxistische Auffassung von der Familie als der Hauptquelle der Unterdrückung der Frauen geht zurück auf die Deutsche Ideologie, wo Marx und Engels erstmals die Vorstellung entwickelten, dass die Familie nicht eine unveränderbare, zeitlose Institution sei, sondern eine gesellschaftliche Beziehung, die historischer Veränderung unterworfen ist. In dem klassischen Werk Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats (1884) hat Engels, der das damals verfügbare Material benutzte, den Ursprung der Institution der Familie und des Staates zurückverfolgt bis zur Spaltung der Gesellschaft in Klassen. Mit dem Entstehen eines gesellschaftlichen Überschusses, der über die Grundbedürfnisse hinausging, konnte sich auf der Grundlage privater Aneignung dieses Überschusses eine müßige herrschende Klasse entwickeln, was die menschliche Gesellschaft von dem primitiven Egalitarismus der Steinzeit wegbrachte. Die zentrale Stellung der Familie entsprang ihrer Rolle bei der Vererbung des Eigentums, die sexuelle Monogamie und gesellschaftliche Unterordnung der Frauen erforderte. Engels nannte dies „die weltgeschichtliche Niederlage des weiblichen Geschlechts“.

In einer kollektivierten Planwirtschaft will man alle Erwachsenen produktiv beschäftigen mit dem Ziel, den Wohlstand zu maximieren, einschließlich Freizeit für alle. Dagegen will in einer kapitalistischen Wirtschaft mit ihrem Auf und Ab des Konjunkturzyklus jedes kapitalistische Unternehmen seine Profitrate maximieren. Unausweichlich versuchen kapitalistische Firmen die Kosten zu reduzieren (und die Profite zu steigern), indem sie sowohl die Löhne senken als auch Arbeitsplätze einsparen, was eine verarmte Arbeiterklasse, ein Reservoir an Langzeitarbeitslosen und lange Arbeitszeiten für die, die noch arbeiten, zur Folge hat. Isoliert in der Familie, stellen die Frauen einen großen Teil der Reservearmee der Arbeitslosen, die während eines wirtschaftlichen Aufschwungs eingestellt werden und in schwierigen Zeiten „zurück an den Herd“ geschickt werden. Wenn Frauen in großer Zahl zu einem Teil der Arbeiterschaft werden, versuchen die Kapitalisten die Reallöhne für die Männer zu senken, so dass man das Einkommen von zwei arbeitenden Erwachsenen braucht, um eine Familie zu ernähren.

Die notwendige Rolle der Familie — die Funktion, die ersetzt werden muss und nicht einfach abgeschafft werden kann — ist das Großziehen der nächsten Generation. Unter dem Kapitalismus sind die Massen der Jugendlichen ausersehen zur Lohnsklaverei und zum Dienst als Kanonenfutter in der bürgerlichen Armee, und die Familie spielt eine wichtige Rolle bei der Erziehung zu Gehorsam gegenüber Autoritäten. Sie sorgt auch für das Eintrichtern von religiöser Rückständigkeit, einem ideologischen Hemmschuh für die Entwicklung sozialen Bewusstseins.

Zwar wird die Familie durch viele Aspekte des kapitalistischen Systems untergraben und zersetzt (die Beschäftigung von Frauen und die allgemeine Schulpflicht sind zwei Beispiele), doch der Kapitalismus ist nicht dazu imstande, eine systematische Lösung für die Doppelbelastung der Frauen anzubieten, und strebt immer danach, seine geschwächten Institutionen zu stützen. Bürgerliche Feministinnen, deren Einwand gegen den Kapitalismus darin besteht, dass sie selber in diesem eine untergeordnete Stellung einnehmen, treten daher für eine Neuaufteilung der Hausarbeit innerhalb der Familie ein, um den Anteil des Mannes an den häuslichen Pflichten zu erhöhen. Marxisten wollen die Hausarbeit gänzlich in die öffentliche Sphäre verlagern. Wie der bolschewistische Führer Jewgeni Preobraschenski (später ein Verbündeter Trotzkis) sagte: „Unsere Aufgabe besteht nicht darin, nach Gerechtigkeit in der Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern zu streben. Unsere Aufgabe ist es, Männer und Frauen von der kleinlichen Hausarbeit zu befreien“ (zitiert in Goldman, Women, the State and Revolution). Somit ist es eine der Aufgaben der sozialistischen Revolution, die Institution der Familie durch gemeinschaftliche Kinderbetreuung, Kantinen und Wäschereien sowie bezahlten Mutterschaftsurlaub und kostenlose Gesundheitsversorgung vollständig zu ersetzen und besondere Aufmerksamkeit auf die vollständige Integration der Frauen in das gesellschaftliche und politische Leben zu legen.

In Russland war die feministische Bewegung Teil einer breiteren bürgerlich-demokratischen Strömung, die den Zarismus ablehnte und Russland zu einer kapitalistischen Industriegesellschaft modernisieren wollte. Somit richteten im Jahre 1906 — inmitten der anhaltenden Gärung der ersten Russischen Revolution — die drei wichtigsten feministischen Organisationen (der Frauenbund für gleiche Rechte, die Fortschrittliche Frauenpartei und die Philanthropische Frauengesellschaft für Gegenseitigkeit) ihre Bemühungen auf die Verabschiedung von Gesetzen zur Gleichberechtigung und zum Frauenwahlrecht in der neu eingerichteten Duma (Parlament). Der Niedergang der russischen feministischen Bewegung begann, nachdem die von Liberalen dominierte Erste und Zweite Duma von der Autokratie aufgelöst wurde.

Im Jahr 1917 war für arbeitende Frauen das wichtigste „Frauenthema“ der Widerstand gegen den blutigen imperialistischen Krieg, der seit drei Jahren wütete. Der Krieg löste den Februaraufstand aus, der damit begann, dass die Frauen zum Internationalen Frauentag massenhaft auf die Straße gingen. Nach der Abdankung des Zaren und der Errichtung der bürgerlich-demokratischen Provisorischen Regierung waren die meisten vorgeblich linken und Reformparteien — einschließlich der russischen Feministinnen — der Ansicht, die Hauptziele der Revolution seien erreicht. Daher gaben sie ihre Opposition gegen den Krieg auf und unterstützten im Namen der „Demokratie“ die Wiederaufnahme des imperialistischen Gemetzels.

Die Bolschewiki kämpften für die Umwandlung der Sowjets der Arbeiter- und Bauerndeputierten in Herrschaftsorgane der Ausgebeuteten und Unterdrückten, einschließlich der Frauen, sowie für die sofortige Beendigung des Krieges ohne Annexionen von anderen Ländern. Die besten Kämpfer für Frauenbefreiung waren die Bolschewiki, da sie verstanden, dass die Befreiung der Frauen von der Befreiung der Arbeiterklasse insgesamt nicht losgelöst werden kann. Und sie kann auch nicht vollständig erreicht werden in politischer, sozialer und wirtschaftlicher Isolation von der übrigen Welt, schon gar nicht in einem zurückgebliebenen Land — selbst wenn es dort eine revolutionäre Regierung gibt.

Frühe bolschewistische Arbeit unter Frauen

Die russische Gesellschaft war durchdrungen von frauenfeindlicher Beschränktheit der krassesten Art. 1917 machte die vor kaum mehr als 50 Jahren aus der Leibeigenschaft entlassene Bauernschaft etwa 85 Prozent der Bevölkerung aus. Sie lebte unter einem dörflichen System mit einer strengen patriarchalischen Hierarchie, ohne auch nur die einfachste moderne Infrastruktur: ohne Kanalisation, Stromversorgung und gepflasterte Straßen. Unwissenheit und Analphabetentum waren die Norm, und Aberglaube war weit verbreitet. Die althergebrachten Institutionen des Haushalts (Dwor) und der Dorfgemeinschaft bestimmten über Landbesitz und Lebensunterhalt und sorgten für die Erniedrigung der Frauen. Diese extreme Unterdrückung war eine zwangsläufige Folge der niedrigen Produktivität der russischen Landwirtschaft, die mit jahrhundertealter Technik arbeitete. Bäuerinnen wurden wie Arbeitstiere behandelt; so war die Batratschka eine Saisonarbeiterin, die als „Ehefrau“ eingestellt und dann bei Schwangerschaft rausgeschmissen wurde. Eine Bäuerin beschrieb ihr Leben mit den Worten: „Auf dem Lande wird eine Frau als Arbeitspferd angesehen. Du arbeitest dein ganzes Leben für deinen Ehemann und seine ganze Familie, erträgst Schläge und Erniedrigungen jeglicher Art, aber so oder so kannst du nirgendwo hingehen — du bist in der Ehe gefangen“ (zitiert ebd.).

Jedoch stellten Frauen schon 1914 ein Drittel von Russlands kleiner, aber mächtiger Industriearbeiterschaft. Das bolschewistische Programm griff ihre Bedürfnisse auf, durch Forderungen nach gleichem Lohn für gleiche Arbeit, bezahltem Mutterschaftsurlaub und Kinderkrippen in den Fabriken. Das Fehlen solcher Einrichtungen hatte erheblich zur Kindersterblichkeit beigetragen, zwei Drittel der Säuglinge von Fabrikarbeiterinnen starben im ersten Lebensjahr. Die Partei bemühte sich, arbeitende Frauen gegen Misshandlung und Gewalt in der Ehe zu verteidigen, und trat — als Volkstribun nach dem leninistischen Konzept, das in Was tun? (1902) dargelegt wurde — gegen jegliche Art von Diskriminierung und Unterdrückung auf, wo auch immer sie stattfand. Dazu gehörte auch, dass die Partei nach der Februarrevolution in den Gewerkschaften gegen den Vorschlag kämpfte, der Arbeitslosigkeit erst einmal durch die Entlassung verheirateter Frauen, deren Ehemann arbeitete, entgegenzuwirken. Diesen Vorschlag versuchte man unter anderem in den Putilow-Munitionswerken und den Wyborger Eisenwerken durchzusetzen, und die Bolschewiki traten dagegen auf, weil damit die politische Einheit des Proletariats bedroht wurde. Hunderte von Frauen waren schon vor der Revolution Mitglied der Bolschewistischen Partei und beteiligten sich an allen Aspekten der Parteiarbeit, sowohl legal als auch im Untergrund, als Funktionäre in örtlichen Parteikomitees, als Kuriere, Agitatoren und Redakteure.

In der häuslichen und familiären Enge sind viele Frauen vom gesellschaftlichen und politischen Leben isoliert und können so ein Reservoir rückschrittlichen Bewusstseins darstellen. Doch wie Clara Zetkin 1921 auf dem Weltkongress der Kommunistischen Internationale sagte: „Entweder wird die Revolution die Frauenmassen haben oder die Gegenrevolution hat sie!“ (Protokoll des III. Kongresses der Kommunistischen Internationale). Schon vor dem Ersten Weltkrieg hatten die Sozialdemokraten in Deutschland Pionierarbeit geleistet, indem sie eine besondere „Übergangsorganisation“ für Frauen ins Leben riefen. Diese Organisation, die durch ihre bewusstesten Kader mit der Partei liiert war, nahm den Kampf um Frauenrechte und andere politische Schlüsselfragen auf, führte Bildungsarbeit durch und brachte eine Zeitung heraus. Die russischen Bolschewiki stützten sich auf diese Arbeit ihrer deutschen Genossen und trugen vor allem die Parteiarbeit unter Frauen in die Fabriken. Durch den Aufbau von Übergangsorganisationen, die Gründung der Zeitung Rabotniza (Die Arbeiterin) und, nach der Oktoberrevolution, des Schenotdel mobilisierten die Bolschewiki erfolgreich Massen von Frauen aus der Arbeiterklasse wie auch aus der Bauernschaft, die die Partei sonst nicht erreicht hätte.

Rabotniza rief in Petrograd zu Massenversammlungen und Demonstrationen gegen den Krieg und die Preissteigerungen auf — Fragen, die am besten dazu geeignet waren, arbeitende Frauen zu aktivieren. Die Erste Stadtweite Konferenz der arbeitenden Frauen Petrograds, die von Rabotniza für den Oktober 1917 einberufen wurde, musste vorzeitig vertagt werden, damit die Delegierten am Aufstand teilnehmen konnten; sie trat dann später erneut zusammen. Unter anderem nahm sie Resolutionen für einen einheitlichen Achtstundentag und für ein Verbot der Kinderarbeit unter 16 Jahren an. Ein Ziel der Konferenz war es auch, arbeitende Frauen, die nicht Parteimitglieder waren, für den Aufstand zu mobilisieren und sie für die Ziele zu gewinnen, die die Sowjetregierung nach Errichtung der Diktatur des Proletariats verfolgen wollte.

Die Revolution konnte anfänglich in Russland nicht zuletzt deshalb Wurzeln schlagen, weil die werktätigen Frauen in Stadt und Land sich dieser historischen Mission politisch bewusst wurden. Selbst die erbittertsten politischen Gegner der Oktoberrevolution wie die russischen Menschewiki, „sozialistische“ Befürworter einer Rückkehr zur kapitalistischen Herrschaft, erkannten den Erfolg der Bolschewiki widerwillig an. Der menschewistische Führer Juri Martow brachte das in einem Brief an seinen Genossen Pawel Axelrod zum Ausdruck — wie auch seine Verachtung für die proletarischen Massen:

„Du kannst dir kaum vorstellen, was es in der letzten Zeit (kurz vor meiner Abreise) an heftigem, echt bolschewistischem Fanatismus, mit Verehrung für Lenin und Trotzki und mit hysterischem Hass gegen uns, bei einer bedeutenden Masse von Moskauer Arbeiterinnen gegeben hat, sowohl in den Fabriken als auch in den Werkstätten. Das erklärt sich weitgehend daraus, dass man das weibliche Proletariat Russlands wegen seines Analphabetentums und seiner Hilflosigkeit in seiner Masse erst durch staatliche Mechanismen in die âPolitik‘ hat einbeziehen können (endlose Fortbildungskurse und âkulturell‘-agitatorische Einrichtungen, offizielle Feierlichkeiten und Demonstrationen und — last not least — mittels materieller Privilegien). So sind die Worte, auf die man in Briefen von Arbeiterinnen an die Prawda stößt, wie: âErst nach dem Oktoberumsturz haben wir Arbeiterinnen die Sonne erblickt‘, keine leeren Phrasen.“

—„Brief an P.B. Axelrod, 5. April 1921“, Ju. O. Martow, Briefe 1916–1922 (Chalidze Publications, Benson, Vermont, 1990) (unsere Übersetzung)

Die frühe Sowjetregierung und das Familienrecht von 1918

Die Revolution führte zu einem plötzlichen Auflodern von Optimismus und Hoffnungen auf eine auf sozialistischen Grundsätzen errichtete Gesellschaft. Jugendliche stürzten sich in heftige Diskussionen über sexuelle Beziehungen, Kindererziehung und den Charakter der Familie beim Übergang zum Sozialismus. Diese kreative Energie erfasste auch die kulturellen Bereiche, wo sich Prioritäten und Aufgaben so änderten, dass sie die weit verbreitete Auffassung widerspiegelten, die Familie werde bald absterben (siehe „Planning for Collective Living in the Early Soviet Union: Architecture as a Tool of Social Transformation“ [Planung des kollektiven Lebens in der frühen Sowjetunion: Architektur als Werkzeug zur gesellschaftlichen Umwälzung], W&R Nr. 11, Frühjahr 1976).

Die sowjetische Gesetzgebung schenkte den Frauen in Russland damals Gleichheit und Freiheit in einem Ausmaß, das noch nicht einmal die heute wirtschaftlich fortgeschrittensten „demokratischen“ kapitalistischen Länder erreicht haben. Aber es gab ein Problem, das der Vorsitzende der Moskauer Provinzgerichte A. T. Stelmachowitsch lapidar zusammenfasste: „Die Befreiung der Frauen ... ohne eine wirtschaftliche Grundlage, die jedem Arbeiter volle materielle Unabhängigkeit garantiert, ist ein Mythos“ (zitiert in Goldman, Women, the State and Revolution).

Kaum einen Monat nach der Revolution führten zwei Dekrete die Zivilehe und die Scheidung auf Wunsch eines der beiden Ehepartner ein; damit wurde mehr erreicht, als es das vorrevolutionäre Justizministerium, progressive Journalisten, Feministinnen und die Duma je auch nur versucht hatten. Scheidungen nahmen in der Folgezeit rapide zu. Mit dem vollständigen Gesetzbuch über Eheschließung, die Familie und Vormundschaft, das im Oktober 1918 vom staatlichen Regierungsorgan, dem Zentralen Exekutivkomitee (ZEK), ratifiziert wurde, fegte man die jahrhundertealte patriarchalische und kirchliche Macht hinweg und schuf eine neue Doktrin auf der Grundlage von persönlichen Rechten und der Gleichheit der Geschlechter.

Die Bolschewiki schafften auch alle Gesetze gegen homosexuelle Handlungen und gegen andere einvernehmliche sexuelle Aktivitäten ab. Der Leiter des Moskauer Instituts für Sozialhygiene, Gregori Batkis, erläuterte die bolschewistische Position in der Broschüre Die Sexualrevolution in Russland (1923):

„Indem nun die Sowjetgesetzgebung alle diese Seiten der Übergangsperiode berücksichtigt, baut sie sich auf folgenden Prinzipien auf: Sie erklärt absolute Nichteinmischung des Staates und der Gesellschaft in geschlechtliche Beziehungen, soweit sie Niemandem Schaden bringen und Niemandes Interessen verletzen.

Um das neue Familiengesetz zu entwerfen, gründete man im August 1918 ein Komitee unter dem Vorsitz von A.G. Goichbarg, einem früheren menschewistischen Juraprofessor. Juristen beschrieben das Gesetzbuch als „keine sozialistische Gesetzgebung, sondern eine Gesetzgebung der Übergangszeit“ — genauso wie der sowjetische Staat selber, als Diktatur des Proletariats, ein vorbereitendes Übergangsregime vom Kapitalismus zum Sozialismus war (zitiert in Goldman, a.a.O.).

Die Bolschewiki erwarteten, man werde „die Notwendigkeit gewisser Eintragungen für die Familie, z.B. der Eheregistrierung, bald durch eine angemessenere, rationalere Unterscheidung auf der Grundlage von Einzelpersonen ersetzen“ können, wie Goichbarg etwas überoptimistisch erklärte. Er fügte hinzu: „Die proletarische Macht entwickelt ihre Gesetzbücher und alle ihre Gesetze dialektisch, so dass jeder Tag ihrer Existenz deren Daseinsberechtigung unterminiert.“ Wenn „die Fesseln zwischen Ehemann und Ehefrau veralten“, wird die Familie absterben, ersetzt durch revolutionäre soziale Beziehungen auf der Grundlage der Gleichberechtigung der Frauen. Erst dann wird, in den Worten des Sowjetsoziologen S. Ja. Wolfson, die Dauer einer Ehe „einzig und allein durch die gegenseitige Zuneigung der Partner bestimmt werden“ (zitiert ebd.). Die Scheidung wird vollzogen durch das Abschließen einer Tür, wie der sowjetische Architekt L. Sabsowitsch es sich vorstellte.

Die neuen Ehe- und Scheidungsgesetze waren sehr populär. Doch angesichts der traditionellen Verantwortung der Frauen für die Kinder, und weil sie es schwerer hatten, eine Beschäftigung zu finden und zu behalten, war für sie eine Scheidung oft problematischer als für die Männer. Aus diesem Grund wurde die Unterhaltszahlung für die erwerbsunfähigen Armen beiderlei Geschlechts eingeführt, als notwendige Konsequenz aus der damaligen Unfähigkeit des Staates, allen einen Arbeitsplatz zu garantieren. Das Gesetzbuch von 1918 schaffte die Unterscheidung zwischen „ehelichen“ und „unehelichen“ Kindern ab und benutzte dafür die wohlüberlegte Ausdrucksweise „Kinder von Eltern, die nicht in einer registrierten Ehe leben“. So konnten Frauen Kinderbeihilfe von Männern verlangen, mit denen sie nicht verheiratet waren.

Das Gesetzbuch führte auch das Recht aller Kinder auf Unterhalt durch ihre Eltern bis zum 18. Lebensjahr ein und das Recht jedes Ehepartners auf eigenes Vermögen. Bei der Urteilsfindung bevorzugten die Richter Frauen und Kinder mit der Begründung, dass die Unterhaltszahlung für die Kinder Vorrang habe vor dem Schutz der finanziellen Interessen der männlichen Beklagten. In einem Fall teilte ein Richter die Unterhaltszahlung durch drei, weil die Mutter mit drei verschiedenen Männern geschlafen hatte.

In der Debatte über den Entwurf musste Goichbarg diesen gegen Kritiker verteidigen, die die Ehe ganz abschaffen wollten. Zum Beispiel sprach sich N.A. Roslawez, eine ukrainische Delegierte, dafür aus, das ZEK solle den Abschnitt des Gesetzbuches über die Ehe ablehnen, weil er einen Schritt weg „von der Freiheit der Ehebeziehungen als einer der Vorbedingungen für persönliche Freiheit“ darstelle. „Es ist mir unverständlich, weshalb dieses Gesetzbuch die Monogamie vorschreibt“, sagte sie; sie lehnte auch die (sehr begrenzte) Unterhaltszahlung als „nichts anderes als Bezahlung für Liebe“ ab (zitiert ebd.).

Goichbarg erzählte später: „Sie schrien uns an: âEheregistrierung, offizielle Ehe, was für ein Sozialismus ist das denn?‘“ Sein Hauptargument war, dass die zivilrechtliche Registrierung der Ehe entscheidend sei für den Kampf gegen die mittelalterliche Umklammerung durch die russisch-orthodoxe Kirche. Ohne die Zivilehe würde die Bevölkerung auf religiöse Zeremonien zurückgreifen, und die Kirche würde florieren. Er charakterisierte Roslawez’ Kritik als „radikal in Worten“, aber „reaktionär in Taten“. Goichbarg wies darauf hin, dass Unterhaltszahlung auf die erwerbsunfähigen Armen beschränkt sei und dass es unmöglich sei, alles auf einmal abzuschaffen. Er entgegnete: „Wir müssen dieses [Gesetzbuch] annehmen in dem Bewusstsein, dass es keine sozialistische Maßnahme ist, denn sozialistische Gesetzgebung wird es kaum geben. Nur begrenzte Normen werden übrig bleiben“ (zitiert ebd.).

Ungleiche und kombinierte Entwicklung

Die Oktoberrevolution legte die Macht in die Hände einer Arbeiterklasse, die zahlenmäßig klein war, in einem verhältnismäßig rückständigen Land. Die Bolschewiki waren daher mit Problemen konfrontiert, die von Marx und Engels, die erwartet hatten, dass die proletarische Revolution zuerst in stärker industrialisierten Ländern stattfinden würde, nicht vorhergesehen werden konnten. Die Bolschewiki meinten, die Russische Revolution werde die Arbeiter in den wirtschaftlich fortgeschrittenen europäischen Ländern zum Sturz ihrer Bourgeoisie anspornen und diese neuen Revolutionen würden wiederum dem russischen Proletariat zu Hilfe kommen. Diese Arbeiterstaaten wären keine sozialistischen Gesellschaften, sondern Übergangsregime, die das Fundament für den Sozialismus auf der Basis einer internationalen Planwirtschaft legen, in der es keine Klassenunterschiede mehr geben und der Staat selbst absterben würde.

Die Machtergreifung in Russland erfolgte nach drei Jahren Weltkrieg, der die Lebensmittelversorgung unterbrochen und in den Städten zu weit verbreitetem Hunger geführt hatte. Am Ende des Bürgerkriegs lag das Land in Trümmern. Das Transportsystem brach zusammen, und die städtischen Zentren erhielten kein Öl und keine Kohle mehr. Obdachlose und hungernde Kinder, die Besprizorniki, streunten auf dem Lande und in den Städten in Banden umher. Der Schriftsteller Viktor Schklowski schrieb, dass im bitterkalten russischen Winter wegen Brennstoffmangels „die Menschen, die in Häusern mit Zentralheizung wohnten, scharenweise umkamen. Sie erfroren — ganze Wohnungen waren voller Leichen“ (zitiert ebd.).

Der Zusammenbruch der Produktivkräfte überstieg alles bisher Dagewesene. Das Land und seine Regierung befanden sich buchstäblich am Rande des Abgrunds. Obgleich die Bolschewiki den Bürgerkrieg gewonnen hatten, war Russlands Volkseinkommen auf nur noch ein Drittel und die Industrieproduktion auf weniger als ein Fünftel des Vorkriegsstandes gefallen. Bis 1921 hatte Moskau die Hälfte seiner Einwohner verloren; Petrograd zwei Drittel. Dann wurde das Land in zwei aufeinander folgenden Jahren von Dürren heimgesucht sowie von einem Sandsturm und einer Heuschreckenplage, die in den südlichen und westlichen Landesteilen zu einer Hungersnot führten. In diesen Gegenden starben 90 bis 95 Prozent aller Kinder unter drei Jahren; überlebende Kinder, deren einer oder beide Elternteile umkamen, waren sich selbst überlassen, obdachlos und am Verhungern. Es gab Fälle von Kannibalismus.

Die Verluste waren in allen Gesellschaftsschichten schrecklich. Von den bolschewistischen Frauenkadern, die in Clements’ Studie behandelt werden, starben zwischen 1917 und 1921 13 Prozent, meist an Infektionskrankheiten. Dazu gehörten Inessa Armand, Leiterin des Schenotdel, und Samoilowa, die beide an der Cholera starben. Samoilowa steckte sich als Parteiaktivistin an der Wolga mit der Krankheit an. Entsetzt über die Zustände am Wolgadelta, verbrachte sie ihre letzten Tage damit, das örtliche Parteikomitee zum Handeln anzutreiben.

Wie Marx es ausdrückte: „Das Recht kann nie höher sein als die ökonomische Gestaltung und dadurch bedingte Kulturentwicklung der Gesellschaft“ („Kritik des Gothaer Programms“, 1875). Die Bolschewiki wussten, dass angesichts jahrhundertelanger Unterdrückung und der Verwüstung des Landes selbst noch so demokratische Gesetze nicht die Verwundbarsten — die Arbeiterinnen und vor allem die Bäuerinnen, die weiterhin Elend und Erniedrigung zu erdulden hatten — schützen konnten. Bis die Familie vollständig durch gemeinschaftliche Lebensweise und Kinderbetreuung ersetzt werden konnte, bildeten Gesetze, die die wirkliche soziale Lage in Betracht zogen, einen notwendigen Teil des politischen Kampfes für eine neue Gesellschaft.

Der Schutz der Mutterschaft

Sofort nach der Revolution unternahm die Regierung eine Kampagne, die Arbeiterinnen mit sozialen und kulturellen Einrichtungen und kommunalen Dienstleistungen zu versorgen und sie in Ausbildungs- und Schulungsprogramme einzubeziehen. Nach dem Arbeitsgesetzbuch von 1918 gab es für das Stillen von Säuglingen mindestens alle drei Stunden eine bezahlte Pause von 30 Minuten. Zu ihrem Schutz wurden Schwangere und stillende Mütter von Nachtarbeit und Überstunden ausgenommen. Dies führte zu einem ständigen Streit mit einigen staatlichen Betriebsleitern, die in diesen Maßnahmen eine außerordentliche finanzielle Belastung sahen.

Die größte Errungenschaft der Gesetzgebung für die Arbeiterinnen war die Mutterschaftsversicherung von 1918, die von Alexandra Kollontai, der ersten Volkskommissarin für soziale Fürsorge und von 1920 bis 1922 Leiterin des Schenotdel, entwickelt und vorangetrieben worden war. Nach dem Gesetz gab es einen voll bezahlten achtwöchigen Mutterschaftsurlaub, Stillpausen und betriebliche Ruheeinrichtungen, kostenlose Versorgung vor und nach der Geburt und finanzielle Beihilfen. Die Mutterschaftsversicherung wurde von einer Kommission zum Schutz von Müttern und Kindern verwaltet, die dem Gesundheitskommissariat angeschlossen war und von einer bolschewistischen Ärztin, Vera Lebedewa, geleitet wurde. Mit seinem Netz an Mutterschaftskliniken, Beratungsbüros, Stillstationen, Kinderkrippen und Heimen für Mutter und Kind war dieses Programm die bei russischen Frauen vielleicht populärste Neuerung des Sowjetregimes.

In den 20er- und 30er-Jahren wurden Frauen bei Menstruation gewöhnlich einige Tage von bezahlter Arbeit freigestellt. Damit war die UdSSR in der Geschichte des Schutzes von Arbeiterinnen wahrscheinlich einzigartig. Spezialisten erforschten auch die Auswirkungen von Schwerarbeit auf Frauen. Eine Wissenschaftlerin schrieb: „Die Gesundheitsvorsorge für Arbeiter scheint in dieser Zeit eines der Hauptanliegen der Arbeitsschutzforschung gewesen zu sein“ (Melanie Ilic, Women Workers in the Soviet Interwar Economy: From „Protection“ to „Equality“ [Arbeiterinnen in der sowjetischen Zwischenkriegswirtschaft: Vom „Schutz“ zur „Gleichberechtigung“], St. Martin’s Press, New York, 1999). Anstrengende Arbeit würde, insbesondere bei Bäuerinnen, zur Unterbrechung oder zur Verschiebung des Menstruationszyklus führen. Die Lösung dieses Problems — Maschinentechnologie, die so weit wie möglich die Anstrengung und potenzielle Gefahren in Industrie und Landwirtschaft für alle Arbeiter, Frauen und Männer, eingrenzt — war damals jenseits der Möglichkeiten der Sowjetwirtschaft.

Abtreibung: kostenlos und auf Wunsch

1920 erließ die Sowjetregierung eine Verordnung, die die Bestrafung für Abtreibung aufhob — weltweit die erste Regierung, die das tat:

„Solange jedoch die Überreste der Vergangenheit und die schweren wirtschaftlichen Bedingungen der Gegenwart einen Teil der Frauen zwingen, die Operation der Schwangerschaftsunterbrechung an sich vornehmen zu lassen, halten das Volkskommissariat für Gesundheitswesen und soziale Fürsorge wie das Volkskommissariat der Justiz die Anwendung von Strafmaßnahmen für verfehlt und beschließen zur Wahrung der Gesundheit der Frauen und zum Schutz der Rasse gegen unwissende oder selbstsüchtige Profitsucher: I. Die unentgeltliche Abtreibung der Frucht, die künstliche Unterbrechung der Schwangerschaft, wird in staatlichen Krankenhäusern vorgenommen, wo den Frauen das Maximum an Gefahrlosigkeit für die an ihnen vorgenommene Operation gesichert wird.“

—„Verordnung des Volkskommissariats für Gesundheitswesen und soziale Fürsorge und des Volkskommissariats der Rechtspflege in Sowjet-Rußland“, Die Kommunistische Fraueninternationale, April 1921

Bei der Durchführung dieser Verordnung stellte sich wieder das Missverhältnis zwischen unzureichenden Mitteln und einer gewaltigen Nachfrage ein, und wegen des Mangels an Betäubungsmitteln wurden Abtreibungen abscheulicherweise im Allgemeinen ohne sie vorgenommen. Das Gesetz verlangte, dass alle Abtreibungen von einem Arzt in einem Krankenhaus vorgenommen werden sollten, doch auf dem Lande fehlten geeignete Einrichtungen. Arbeiterinnen genossen höchste Priorität. Auf dem Lande hatten viele Frauen keinen Zugang zu staatlichen Einrichtungen. Infolgedessen wurden weiterhin riskante Abtreibungen vor allem von Hebammen durchgeführt, und Tausende wurden in den Krankenhäusern wegen der Folgen dieser gefährlichen Eingriffe behandelt.

Ärzte und Vertreter des staatlichen Gesundheitsdienstes hielten qualitativ hochwertige Verhütungsmittel für dringend notwendig, die aber im rückständigen Russland gewöhnlich nicht verfügbar waren. Mitte der 20er-Jahre gab die Kommission zum Schutz von Müttern und Kindern offiziell bekannt, dass Informationen zur Geburtenkontrolle in allen Beratungsbüros und gynäkologischen Einrichtungen verteilt werden sollten. Der Mangel an Verhütungsmitteln lag teilweise am fehlenden Zugang zu Rohstoffen wie Gummi — eine direkte Folge der imperialistischen Blockade gegen Sowjetrussland.

Zwar erkennt Goldman an, dass die Sowjetunion das erste Land der Welt war, das Frauen eine legale, kostenlose Abtreibung erlaubte, sie behauptet aber, die Bolschewiki hätten Abtreibung nie als ein Frauenrecht gesehen, sondern nur als eine Notwendigkeit des Gesundheitswesens. Sicher wird an anderer Stelle in der Verordnung Abtreibung „dieses Übel“ genannt, was merkwürdig klingt in den Ohren des 21. Jahrhunderts, wo man solche Worte nur von religiösen Fanatikern gewohnt ist. Doch in den 20er-Jahren, noch vor der Entwicklung der Antibiotika und in einem Lande, wo grundlegende Hygiene weiterhin ein ernstes Problem darstellte, war Abtreibung weit gefährlicher. Die Bolschewiki sorgten sich um die Verbesserung des Schutzes von Müttern und Kindern. Darin sahen sie die Verantwortung des proletarischen Staates und ein wichtiges Ziel bei der Ersetzung der Familie durch gemeinschaftliche Methoden.

Goldmans Behauptung wird entkräftet durch Trotzkis Erklärung, dass im Gegenteil das Recht auf Abtreibung „eines der bedeutendsten politischen und kulturellen Bürgerrechte“ der Frauen sei. Er verurteilte die stalinistische Bürokratie für ihre Kriminalisierung der Abtreibung 1936, was die „Philosophie eines Pfaffen, der zudem noch die Macht des Gendarmen ausübt“, zeigte:

„Diese Herren haben offenbar vollends vergessen, dass der Sozialismus die Ursachen beseitigen soll, die die Frau zur Abtreibung zwingen, anstatt ihr die âMutterfreuden‘ durch schäbige Eingriffe der Polizei in ihr Intimleben aufzunötigen.“

Verratene Revolution, 1936

Das Schenotdel mobilisiert die Frauenmassen

Das 1919 gegründete Schenotdel flößte den schwächlichen und ungleichartigen Frauenkommissionen der Partei neue Energie ein. Es spielte eine wichtige Rolle bei der Mobilisierung der Frauen im Kampf für den Sozialismus in Russland. Samoilowa berichtete 1920, die Menschen würden von einer „zweiten Oktoberrevolution“ unter Frauen sprechen (zitiert in Carol Eubanks Hayden, Feminism and Bolshevism: The Zhenotdel and the Politics of Women’s Emancipation in Russia, 1917–1930 [Das Schenotdel und die Politik der Frauenemanzipation in Russland, 1917–1930], unveröffentlichte Dissertation, Universität von Kalifornien, Berkeley, 1979). Das grundlegende Organisationsprinzip des Schenotdel war „Agitation durch die Tat“. Für den Historiker Richard Stites war es „der bewusste, sorgfältig geplante Versuch hunderter bereits âbefreiter‘ Frauen, dem Blutstrom des ländlichen und proletarischen Russland ihre Überzeugungen und Programme und ihr Selbstbewusstsein einzuimpfen“ (Stites, The Women’s Liberation Movement in Russia). Dass so viele Frauen Mitglied der Sowjetregierung und der Partei wurden, veranschaulicht die von der Partei geförderte außerordentliche soziale Mobilität.

Ein Hauptinstrument für diese Arbeit war das vom Schenotdel entwickelte System der „Delegiertenversammlungen“, die als eine Schule in Sachen Politik und Befreiung gedacht war. Danach wurden unter den Arbeiterinnen einer Fabrik Wahlen abgehalten, um eine von ihnen für einen Zeitraum von drei bis sechs Monaten zur Schenotdel-Delegierten zu wählen. Die Wahl selbst war ein Schritt vorwärts bei der Bewusstseinsbildung. Die Delegatka, die einen roten Schal als Dienstabzeichen trug, war Beobachterin und Auszubildende in verschiedenen Bereichen des öffentlichen Lebens wie der Fabrik, dem Sowjet, der Gewerkschaft, den Schulen, dem Krankenhaus oder der Kantine. Nachdem sie eine Zeit lang in der Welt der praktischen Politik verweilt hatte, erstattete sie dem Schenotdel und ihren Kolleginnen Bericht darüber, was sie dort als gewählte Politikerin, Administratorin, Propagandistin und Kritikerin gelernt hatte. Ein Beobachter beschrieb die Delegatki als „Bedrohung für Bürokraten, Trunkenbolde, große und kleine Kulaken und alle, die sich den Sowjetgesetzen widersetzten“ (zitiert ebd.).

Außer der Zeitschrift Kommunistka, die Artikel zu wichtigen theoretischen und praktischen Aspekten der Frauenfrage enthielt, veröffentlichte das Schenotdel Frauenseiten (Stranitschki) in vielen nationalen und örtlichen Parteizeitungen. Frauen aus der Arbeiterklasse wurden aufgefordert, Korrespondentinnen zu werden und Berichte und Briefe zu schicken. Konferenzen und Kongresse brachten viele Frauen aus einem breiten Spektrum und verschiedenen Regionen zusammen. Das letzte bedeutsame Treffen war der Kongress der Frauendeputierten der Sowjets von 1927, auf dem die Frauen mit „einem Gefühl der Macht und des Erfolgs“ auftraten — ein überwältigendes Zeugnis für die in den vorangegangenen zehn Jahren vollbrachte Arbeit.

Gemeinschaftliches Leben: Ersetzung des Haushaltselends

Die anfänglichen Maßnahmen, ein gemeinschaftliches Leben in der Sowjetunion einzuführen, waren stark vom Bürgerkrieg beeinflusst. Um die Bevölkerung für den Krieg zu mobilisieren, führten die Bolschewiki den „Kriegskommunismus“ ein, der staatliche Rationierung, öffentliche Kantinen, kostenlose Nahrungsmittel für Kinder sowie Naturallöhne beinhaltete. Im Januar 1920 verköstigte Petrograd eine Million Menschen in öffentlichen Kantinen; in Moskau wurden 93 Prozent der Bevölkerung auf diese Art versorgt. Die Mahlzeiten waren von dürftiger Qualität, doch mit dem revolutionären Optimismus dieser Zeit sah man das als vorübergehendes Problem an. In späteren Jahren blickten viele mit Nostalgie auf die idealistische Zukunft zurück, die durch das gemeinschaftliche Leben unter dem „Kriegskommunismus“ verheißen wurde, im Gegensatz zu der bevorstehenden bitteren Realität. Der Parteiführer I. Stepanow fasste es so zusammen:

„Wir Erwachsenen waren alle entsetzlich hungrig bis zum Wahnsinn, aber wir konnten mit Recht der ganzen Welt sagen: Die Kinder sind die ersten privilegierten Bürger unserer Republik. Wir konnten sagen, dass wir dabei waren, die Befreiung der Liebe ... von wirtschaftlichen Erwägungen und der Frauen von der Haushaltssklaverei zu verwirklichen.“

—zitiert in Goldman, a.a.O.

Ein entscheidender Bestandteil bei der Befreiung der Frauen aus dem Gefängnis des Haushalts war die Vergesellschaftung der Kinderbetreuung. Das bolschewistische Programm basierte auf der Vorstellung, dass alle Personen vollen Zugang zu allen kulturellen und sozialen Leistungen der Gesellschaft haben sollten, im Unterschied zu den vom sozialen und wirtschaftlichen Status diktierten Beschränkungen. Ein Allrussischer Kongress zum Schutz der Kindheit wurde 1919 einberufen. Die Delegierten diskutierten über Theorien der Kinderbetreuung und über das Ausmaß der Rolle des Staates im Vergleich zur Rolle der Eltern bei der Erziehung der Jüngsten. Eines der Mitglieder des Kongresspräsidiums, Anna Jelisarowa, brachte die allgemeine Auffassung der Mehrheit zum Ausdruck: „Es darf keine im Elend lebenden Kinder geben, die zu niemandem gehören. Alle Kinder sind die Kinder des Staates“ (zitiert ebd.).

Eine Bestimmung des im Vorjahr in Kraft getretenen Familiengesetzbuches hatte Adoption gänzlich verboten, der Staat sollte die Verantwortung übernehmen, sich um Waisen zu kümmern. Diese Maßnahme war besonders wichtig, da in Russland Adoption als Quelle billiger Arbeitskraft notorisch von Bauern benutzt wurde. Stattdessen sollte die Regierung die qualitativ hochwertige Erziehung aller Kinder als Aufgabe übernehmen.

Doch die enormen Widersprüche zwischen dem Bestreben und der Realität blieben bestehen. Der Staat war nicht in der Lage, sich um die Millionen obdachlosen Waisen in Russland, die Besprizorniki, zu kümmern. Dieses Problem hatte es schon vor der Revolution gegeben, und sieben Jahre Krieg, gefolgt von Hunger, hatten diese Zahl in die Höhe getrieben: 1922 belief sie sich schätzungsweise auf 7,5 Millionen. Die Regierung bewilligte kostenlose Nahrungsmittel für alle Kinder unter 16 Jahren; Küchen und Heime wurden errichtet, und die ehemaligen Adelslandgüter wurden in Waisenhäuser verwandelt, mit nur teilweisem Erfolg. Goldman beschreibt den Teufelskreis, der aus den mangelnden Ressourcen zur Beseitigung der Not entstand: „Ohne Kindertagesstätten konnten viele allein erziehende Mütter nicht auf Arbeitssuche gehen, und ohne Arbeit konnten sie ihre Kinder nicht versorgen, die wiederum aus einem verarmten Zuhause davonliefen und sich den Besprizorniki auf der Straße anschlossen“ (ebd.). Obgleich die Zahlen in dem Jahrzehnt nach der Hungersnot von 1921 zurückgingen, blieben die Besprizorniki für die Sowjetregierung bis weit in die 30er-Jahre hinein ein Problem.

Vorübergehender Rückzug: die Neue Ökonomische Politik

Als der Bürgerkrieg Ende 1920 zu Ende ging, zeigten sich die Grenzen der Politik des „Kriegskommunismus“. Die Industrie war so gut wie zusammengebrochen. Die meisten politisch fortgeschrittenen Arbeiter waren im Bürgerkrieg umgekommen oder in die Staats- und Parteiverwaltung einbezogen worden; viele der übrig gebliebenen Arbeiter waren zurück aufs Land gegangen, um sich dort mehr schlecht als recht durchzuschlagen. Bauern im Süden begannen gegen die Zwangsrequirierungen von Getreide zu rebellieren (siehe „Kronstadt 1921: Bolschewismus gegen Konterrevolution“ auf Seite 8).

Um die Produktion wiederzubeleben und das Bündnis mit der Bauernschaft zu erhalten, schlug Lenin Anfang 1921 die Neue Ökonomische Politik (NEP) vor, wobei die Zwangsrequirierungen von Getreide durch eine Steuer auf landwirtschaftliche Produkte ersetzt wurden — die Bauern durften jetzt einen Großteil ihres Getreides auf dem freien Markt verkaufen. Die Regierung versuchte die Währung zu stabilisieren; die Rationierung von Lebensmitteln und knappen Konsumgütern wurde beendet, und es wurden Kleinproduktion und der Verkauf von Konsumgütern mit Profit erlaubt. Durch diese Zugeständnisse an die Marktkräfte wurde zwar die Wirtschaft in hohem Maße wiederbelebt, sie stärkten aber auch die bestehenden Asymmetrien in der Wirtschaft, indem die Schwerindustrie wenig oder gar keine Investitionen erhielt, während die angestammte Schicht der wohlhabenderen Bauern (Kulaken) sich auf Kosten der ärmeren Schichten in den Dörfern ständig bereicherte. Es entstand eine florierende Schicht von neureichen Kleinproduzenten und -händlern (NEP-Leute).

Wie zu erwarten, wirkte sich die NEP negativ auf Frauen und Kinder aus. Frauen litten bis 1927 unter einem allgemeinen Anstieg der Arbeitslosigkeit und wurden in „traditionelle“ Bereiche wie Textil- und Leichtindustrie zurückgedrängt. Praktiken der „freien Marktwirtschaft“ brachten die Diskriminierung von Frauen bei Einstellungen und Entlassungen mit sich — vor allem angesichts der Kosten für bezahlten Mutterschaftsurlaub und für Arbeitsschutzmaßnahmen für schwangere und stillende Frauen. Für vorher kostenlose öffentliche Leistungen wie Gemeinschaftsmahlzeiten wurden Gebühren eingeführt. Die Hälfte der Kindertagesstätten und Heime für allein erziehende Mütter mussten schließen, was jeglichen Versuch zur Frauenbefreiung untergrub: Mütter hatten kaum Gelegenheit zu lernen, eine Ausbildung zu erhalten oder am sozialen und politischen Leben teilzunehmen.

Die für Frauen vielleicht tragischste Folge der NEP war das Wiederaufleben der Prostitution. In Sowjetrussland war Prostitution nicht illegal. Die Regierung strebte vielmehr eine „Zurückführung der Prostituierten zur produktiven Arbeit, Eingliederung in die soziale Wirtschaft“ an: Das waren laut Zetkin die Worte Lenins (Zetkin, Erinnerungen an Lenin). Eine Regierungskommission bekräftigte 1921 die Ablehnung jeglicher staatlichen Einmischung in private Angelegenheiten:

„Wenn die Regierung gegen die Prostitution kämpft, hat sie keinesfalls vor, in die Sphäre sexueller Beziehungen einzudringen, denn in dieser Sphäre führt jegliche gewaltsame, behördliche Einflussnahme nur zu einer Verzerrung der sexuellen Selbstbestimmung freier und wirtschaftlich unabhängiger Bürger.“

—Elizabeth A. Wood, The Baba and the Comrade: Gender and Politics in Revolutionary Russia [Die Baba und die Genossin: Geschlecht und Politik im revolutionären Russland] (Indiana University Press, Bloomington, 1997)

Arbeitslose Frauen und Besprizorniki stellten zur Zeit der NEP die größten Gruppen der städtischen Prostituierten.

Goldman erwähnt, dass Delegierte einer Versammlung über Frauenarbeit 1922 verärgert auf den „katastrophalen Zustand der Einrichtungen zum Schutz von Müttern und Kindern aufgrund staatlicher Haushaltskürzungen unter der NEP“ aufmerksam machten (Goldman, Women, the State and Revolution). Die Delegierten betonten, dass die Probleme der Frauen „in engem Zusammenhang stehen mit der allgemeinen Lage der Arbeiterklasse und keinesfalls getrennt vom proletarischen Staat betrachtet werden sollen“. Die Regierung versuchte, die verlorenen Mittel durch Spenden und Arbeit auf freiwilliger Basis auszugleichen, und die Kommissariate erließen Anordnungen gegen frauenfeindliche Diskriminierung.

Doch diese Maßnahmen hatten kaum eine Wirkung. Anfang 1923 entbrannte unter führenden Frauenkadern eine Debatte, ob hinsichtlich dieser Probleme weitere Maßnahmen ergriffen werden sollten. So sprachen sich Vera Golubewa und Alexandra Kollontai dafür aus, das Betätigungsfeld der Parteiarbeit unter Frauen zu erweitern. Golubewa, die stellvertretende Leiterin des Schenotdel, argumentierte, dass bei der zunehmenden Arbeitslosigkeit von Frauen die Partei ihren Aktionsradius auf Teile der Bevölkerung außerhalb der Arbeiterklasse ausdehnen müsse, indem sie arbeitslose Frauen und Bäuerinnen in spezielle („Übergangs“-)Formationen für die Arbeit mit der Partei einbeziehe. Die Frage wurde auf dem Parteikongress vom April 1923 diskutiert.

Letztendlich blieb der Sowjetregierung keine andere Wahl als die NEP. Die Alternative wäre gewesen, an der Politik des Kriegskommunismus unter den Bedingungen des gesellschaftlichen Zusammenbruchs festzuhalten, was zu massenhaften Bauernrevolten und zur Konterrevolution geführt hätte. Doch die NEP brachte ihre eigenen derartigen Gefahren mit sich. Wie Trotzki sagte: „Seit dem Übergang zur NEP gewannen die bürgerlichen Tendenzen stark an Boden“ (Verratene Revolution). Selbst unter den durch nationale Isolierung und wirtschaftliche Schwäche erzwungenen Einschränkungen war jedoch die Verschlechterung des Status der Frauen nicht vorherbestimmt, sondern wurde im Gegenteil durch einen politischen Kampf um eine veränderbare Regierungspolitik entschieden.

Tatsächlich hätte selbst im Rahmen der bestehenden materiellen Bedingungen die von der Linken Opposition befürwortete allgemeine Politik den Weg frei machen können für eine wirkliche Verbesserung der Lage der Frauen. Die Durchführung eines systematischen Industrialisierungsplanes, wie er 1923 von der Opposition vorgelegt wurde, hätte die von der NEP genährten bürgerlichen Tendenzen untergraben und gleichzeitig zu einer Steigerung der Frauenbeschäftigung in der Industrie und einer veränderten Vorgehensweise der Fabrikmanager geführt. Die Diskriminierung von Arbeiterinnen bei Löhnen und Einstellungen war Ausdruck einer bürokratischen Degeneration innerhalb des Leitungsapparates der Industrie, die man hätte bekämpfen und rückgängig machen können.

Das „Meer bäuerlicher Stagnation“

Am schärfsten traten die Konflikte zwischen den Zielen der bolschewistischen Revolution zur Befreiung der Frauen und den konkreten Bedingungen der russischen Gesellschaft auf dem Lande zu Tage. Das Landgesetz von 1922 schaffte das Privateigentum an Grund und Boden, Gewässern, Wäldern und Bodenschätzen ab und übergab alles Land dem Staat. Von Rechts wegen hatte jeder Staatsbürger unabhängig von Geschlecht, Religion oder Nationalität ein Anrecht auf das Land, und jeder Erwachsene sollte eine Stimme im Schod (Dorfversammlung) haben. Das Familiengesetz gab jeder Person das Recht, von einem Ehepartner getrennt zu leben, sich scheiden zu lassen und Unterhaltszahlung und Kinderbeihilfe zu beziehen. Extreme Armut verschärfte die Kluft zwischen Gesetz und Lebenswirklichkeit und machte es für viele Bauernhaushalte fast unmöglich, Frauen das zu zahlen, was ihnen von Rechts wegen zustand. Solange die Familie die grundlegende Einheit der Produktion blieb, solange das Patriarchat die Institutionen des Dorflebens bestimmte, konnten weder Bäuerinnen noch Bauern die vom sowjetische Zivilrecht versprochene persönliche Freiheit wahrnehmen.

Die Widersprüche konnten nicht per Gesetz gelöst werden; das Problem ergab sich genau aus dem Charakter der Russischen Revolution. Das relativ kleine Proletariat konnte seine revolutionäre Diktatur errichten, weil es sich den Kampf der Bauernschaft gegen die feudale Barbarei zu Eigen machte. Doch einmal an der Macht, musste das Proletariat über die bürgerlich-demokratischen Aufgaben hinausgehen, die mit der Beseitigung des zaristischen Absolutismus einhergingen. Wie Trotzki sogar schon vor dem Ausbruch der Revolution von 1905 vorhersagte, als er Fragen wie die Länge des Arbeitstages, die Arbeitslosigkeit und den Schutz des Landproletariats ansprach: „Der Antagonismus zwischen ihren Bestandteilen wird in dem Maße wachsen, wie die Politik der Arbeiterregierung sich ihrer Bestimmung bewusst wird und sich aus einer allgemein-demokratischen zu einer Klassenpolitik verwandelt“ (Zusammengefasst in Ergebnisse und Perspektiven, 1906). Der tiefgreifende Prozess der Ausmerzung feudalistischer gesellschaftlicher Verhältnisse auf dem Lande erforderte einen gewaltigen Einsatz an Ressourcen zum Aufbau der notwendigen Infrastruktur: für Schulen, Straßen und Krankenhäuser sowie die Mechanisierung der Landwirtschaft. Die Bolschewiki setzten auf die Arbeiterrevolution in den fortgeschrittenen Ländern Europas, die mit ihren technologischen Mitteln das russische Proletariat in die Lage versetzen konnten, den Bauernmassen die Vorteile einer kollektivierten Landwirtschaft vor Augen zu führen.

Das Justizkommissariat richtete verschiedene Kommissionen ein, die die verwickelten Probleme, mit denen Frauen und Kinder auf dem Lande zu tun hatten, untersuchen sollten. Gegenüber einer mächtigen bäuerlichen Opposition hielten die Juristen an ihrem Engagement für gleiche Rechte fest. Zum Beispiel war Landbesitz an die männlich dominierte Familieneinheit (Dwor) gekoppelt, und Unterhaltszahlung richtete sich nach dem Familienvermögen. Um eine Forderung nach Unterhaltszahlung zu umgehen, griffen Bauern zu einem Trick, indem sie eine fiktive Aufteilung der Familieneinheit herbeiführten und so die Größe des Eigentums verringerten, das das Gericht einer geschiedenen Frau zusprechen konnte. Die Land- und Justizkommissariate weigerten sich wiederholt, bäuerlichen Forderungen nach Abschaffung der Ehescheidung und der Unterhaltspflicht nachzugeben, und vertraten weiterhin die Rechte der Verwundbaren, der Schwachen und der landlosen Bäuerinnen. Die Land- und Familiengesetze verschafften den Frauen Rechte, die zu kleineren Bauernparzellen und einem Rückgang der Produktion führen konnten, in einer Zeit, als die Steigerung der Getreideproduktion eine staatliche Priorität war. Die Moskauer Kommission erklärte: „Zuzustimmen, dass der Dwor keine Verantwortung für Unterhaltszahlungen übernehmen sollte, bedeutet, unser Sowjetgesetz in einem Meer bäuerlicher Stagnation zu ertränken“ (zitiert in Goldman, a.a.O.).

Trotz aller Schwierigkeiten blieben diese Gesetze, für deren Einhaltung der Sowjetstaat sorgte, nicht ohne Wirkung. Melnikowa, eine verarmte Batratschka, die aus dem Dwor ihres Ehemannes hinausgeschmissen worden war, erschien vor einem Richter mit der Klage: „Ich hörte im Dorf, dass es jetzt dieses Gesetz gibt, dass Frauen nicht mehr auf diese Weise gedemütigt werden können“ (zitiert ebd.). Zwar zeigte sich manchmal großer, aus Angst, Unwissenheit und der Macht der Tradition entspringender Widerstand, doch wenn sie erst einmal funktionierten, konnten sich die Institutionen und die Veränderungen des täglichen Lebens von Anfang bis Mitte der 20er-Jahre einer immer größeren Unterstützung unter der Bauernschaft, besonders seitens der Frauen, rühmen.

Bei einer kleinen, aber bedeutenden Minderheit von Bäuerinnen hatte sich das Leben durch die Erziehungsbemühungen der Partei, die Aktivitäten des Schenotdel und ihre neuen gesetzlichen Rechte gänzlich verändert. Delegierte auf einem Frauenkongress sprachen stolz über ihren Kampf, sich als unverheiratete Frauen ihren Anteil am Land zu sichern, Versammlungen des Schod zu besuchen und landwirtschaftliche Kooperativen für Frauen zu organisieren. Mütter unehelicher Kinder und geschiedene Bäuerinnen setzten sich über jahrhundertealte patriarchalische Traditionen hinweg und kämpften vor Gericht gegen den Haushaltsvorstand um das Recht auf Kinderbeihilfe und Unterhaltszahlung.

Fragen des Alltagslebens

Im Jahre 1923 entwickelte sich innerhalb der Bolschewistischen Partei eine Diskussion über die Frage, wie man die Qualität des Byt (Alltagsleben) verbessern könne. Diese scheinbar banale Frage trifft den Kern des Kampfes für die Schaffung völlig neuer wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Verhältnisse. Zentral dabei ist die Frage der Emanzipation der Frauen, die in einem breiteren gesellschaftlichen Zusammenhang das politische Prisma ist, in dem sich alle „Alltagsbeziehungen“ brechen. Keine andere Frage reicht so tief in das tägliche Leben der Massen hinein, das belastet ist von jahrhundertealten Sitten und Bräuchen, einer Haltung sozialer Unterwürfigkeit und religiöser Reaktion, insbesondere in einem rückständigen, verarmten Land wie Russland am Anfang des 20. Jahrhunderts — vergleichbar mit dem heutigen Iran oder Indien. Wie Trotzki zwei Jahre später schrieb: „Unser Fortschritt kann am genauesten anhand jener praktischen Maßnahmen gemessen werden, die wir zur Verbesserung der Lage von Mutter und Kind durchführen… Wie grundlegend die Frage der Mutter ist, kommt in dem Umstand zum Ausdruck, dass sie in ihrem Wesen einen lebenden Punkt darstellt, an dem sich alle entscheidenden Stränge ökonomischer und kultureller Arbeit kreuzen“ („Den Sozialismus aufbauen, heißt die Frauen emanzipieren und die Mütter schützen“, Frau, Familie und Revolution, Dezember 1925).

Selbst Parteimitglieder machten sich schändlicherweise manchmal über das Schenotdel als „Bab-kom“ oder „Zentro-baba“ (Baba ist eine herabsetzende Bezeichnung für Frau) lustig. Zetkin erinnert an Lenins Worte:

„Unsere kommunistische Arbeit unter den Frauenmassen, unsere politische Arbeit unter ihnen schließt ein großes Stück Erziehungsarbeit unter den Männern in sich ein. Wir müssen den alten Herrenstandpunkt bis zur letzten, feinsten Wurzel ausrotten — in der Partei und bei den Massen. Es gehört das zu unserer politischen Aufgabe, ebenso wie die dringend nötige Herausbildung eines Stabes von Genossinnen und Genossen, die in Theorie und Praxis gründlich geschult die Parteitätigkeit unter den werktätigen Frauen durchführen und leisten.“

—Zetkin, Erinnerungen an Lenin

Weder die gesellschaftliche Umgestaltung noch die materiellen Bedingungen waren bereits so weit vorhanden, dass darauf eine neue und höhere Ordnung des Familienlebens hätte eingeführt werden können, die ja zu ihrer Entfaltung einiger Generationen bedarf. Tatsächlich ist die Gleichberechtigung der Frauen in sozialem Sinne vielleicht sogar die letzte Emanzipation, die in einer klassenlosen Gesellschaft vollständig erreicht werden wird, so wie die Frauenunterdrückung die erste nicht klassenmäßige soziale Unterordnung in der Geschichte war.

Trotzki begann eine Reihe von Artikeln zur Frage des Byt zu schreiben, wie „Von der alten Familie — zur neuen“ und „Schnaps, Kirche und Kino“ (beide vom Juli 1923), später zusammengefasst in einem Band mit dem Titel Fragen des Alltagslebens. Natürlich betonte er die Wichtigkeit materiellen Überflusses für die Aneignung von „Kultur“, die er nicht im engen Sinn als Literatur und Kunst definierte, sondern die sämtliche Felder des menschlichen Strebens umfasst. Erst in einer fortgeschrittenen kommunistischen Gesellschaft kann man mit Recht von „Entscheidungsvermögen“ und „Freiheit“ sprechen. In der Zwischenzeit jedoch trat Trotzki dafür ein, freiwillige Initiativen im täglichen Leben zu fördern.

Trotzkis Schriften provozierten eine scharfe Erwiderung von Schenotdel-Mitglied Polina Winogradskaja, die argumentierte, das Problem lasse sich auf die fehlende Initiative seitens der Regierung zurückführen, und die die Eröffnung einer breiteren Diskussion über das Byt ablehnte. Doch Trotzki bestand darauf, dass eine solche Diskussion ein notwendiger Bestandteil der gesellschaftlichen Entwicklung sei:

„In unserem Alltag gibt es die aus der Vergangenheit ererbte materielle Basis, aber es gibt eine neue geistige Verfassung. Zum Begriff der Familie gehören die Küche und die haushälterische Seite, aber auch die Beziehungen zwischen Mann, Frau und Kind, wie sie sich unter den Verhältnissen der sowjetischen Gesellschaft entwickeln — mit neuen Zielen, Aufgaben, Rechten und Pflichten des Ehemanns und der Kinder...

Die Aufgabe des Erkennens des Alltags besteht darin, anschaulich, konkret und überzeugend die Widersprüche zwischen der überlebten materiellen Hülle des Alltags und den neuen Beziehungen und Anforderungen in den Augen der Massen darzustellen.“

—„Gegen den aufgeklärten Bürokratismus (aber auch gegen den nicht aufgeklärten)“, August 1923, Fragen des Alltagslebens

In dem revolutionären Prozess waren die arbeitenden Massen nicht einfach nur passive Objekte, sondern notwendige Akteure. Zum Beispiel schlug Trotzki vor, dass die fortschrittlichsten Menschen sich „schon heute auf kollektiver wirtschaftlicher Grundlage gruppieren könnten“, und bezeichnete dies als „die erste noch sehr unvollkommene Annäherung an die kommunistische Lebensweise“ („Von der alten Familie — zur neuen“). Zwar hatten solche prosozialistischen Initiativen keine zentrale Bedeutung im politischen Kampf gegen die stalinistische Degeneration der Partei und des Staates, doch sie waren unter den schwierigen Gegebenheiten Sowjetrusslands in den 20er-Jahren durchaus möglich.

Die Degeneration der Revolution

Diese Debatten von 1923, wie man mit dem unerträglichen Widerspruch zwischen dem kommunistischen Programm zur Frauenbefreiung und der schrecklichen materiellen Not im Land fertig werden sollte, fanden auf dem Gipfelpunkt des Entscheidungskampfes über die Degenerierung der Revolution statt. Die Armut des Landes erzeugte einen starken Druck zu bürokratischen Deformationen. Soziale Ungleichheiten unter der NEP verschärften diesen Druck nur noch. Wie Trotzki später in seinem klassischen Werk über die stalinistische Degeneration erklärte:

„Grundlage des bürokratischen Kommandos ist die Armut der Gesellschaft an Konsumgütern mit dem daraus entstehenden Kampf aller gegen alle. Wenn genug Waren im Laden sind, können die Käufer kommen, wann sie wollen. Wenn die Waren knapp sind, müssen die Käufer Schlange stehen. Wird die Schlange sehr lang, muss ein Polizist für Ordnung sorgen. Das ist der Ausgangspunkt für die Macht der Sowjetbürokratie. Sie âweiß‘, wem sie zu geben und wer zu warten hat.“

Verratene Revolution

Schließlich kam zwangsläufig dieser materielle Druck in der Bolschewistischen Partei selbst zum Ausdruck. Stalin, der im März 1922 zum Generalsekretär der Partei ernannt worden war, erhöhte die Gehälter, Vergünstigungen und materiellen Privilegien der Parteifunktionäre erheblich und wurde zum Interessenvertreter der neuen bürokratischen Schicht. Bald nach Stalins Ernennung erlitt Lenin einen schweren Schlaganfall; als er Ende 1922 für nur ein paar Monate die Arbeit wieder aufnahm, drängte er Trotzki dazu, einen entschlossenen Kampf gegen den Einfluss der wachsenden Bürokratenschicht innerhalb der Partei zu führen (siehe „Eine kritische Bilanz: Trotzki und die russische Linke Opposition“, Spartacist, deutsche Ausgabe Nr. 22, Sommer 2001). Nach einer Reihe von Schlaganfällen, die im Dezember einsetzte, blieb Lenin bis zu seinem Tod im Januar 1924 arbeitsunfähig.

Stalin tat sich mit Lew Kamenjew und Gregori Sinowjew, zwei anderen Politbüromitgliedern, zu einem geheimen „Triumvirat“ innerhalb der Sowjetführung zusammen und arbeitete eifrig daran, Trotzkis Aufstieg zu verhindern. Trotzki verstand, dass das Bündnis zwischen den Arbeitern und den Bauern brüchig bleiben würde, solange das Sowjetregime den Bauern keine preiswerten Industrie- und Konsumgüter liefern konnte. Daher trat er für zunehmende Investitionen in die Schwerindustrie ein und für zentralisierte Planung durch die Regierung. Die Bürokratie leistete dagegen Widerstand, zog es vor, die NEP ihren Weg gehen zu lassen, und beugte sich immer mehr dem wirtschaftlichen Druck der Kulaken und NEP-Leute.

Auf Grund der wachsenden wirtschaftlichen Unzufriedenheit brachen im Sommer 1923 Streiks in Moskau und Petrograd aus. In einer Reihe von Briefen an das Zentralkomitee forderte Trotzki, die Partei solle sofort eine Kampagne gegen Bürokratismus eröffnen und einen Plan für industrielle Investitionen entwickeln. Sechsundvierzig führende Parteimitglieder (darunter die militärische Führerin Jewgenia Bosch) unterschrieben eine ähnlich lautende Erklärung. Auf den Seiten der Parteizeitung Prawda gab es eine Welle der Unterstützung für die lockere antibürokratische Opposition und den vorgeschlagenen „Neuen Kurs“.

Zur gleichen Zeit eröffnete eine revolutionäre Krise in Deutschland die Möglichkeit einer Arbeiterrevolution und ließ hoffen, dass die Isolierung des sowjetischen Arbeiterstaates bald zu Ende gehen würde. Als Sinowjews Führung der Kommunistischen Internationale und die Kommunistische Partei Deutschlands es versäumten, die revolutionäre Gelegenheit zu ergreifen, die sich im Sommer 1923 ergab, und sie schändlicherweise einen für Ende Oktober geplanten Aufstand absagten, wurde Russland von Hoffnungslosigkeit erfasst (siehe „Eine trotzkistische Kritik: Deutschland 1923 und die Komintern“, Spartacist, deutsche Ausgabe Nr. 22, Sommer 2001).

In der darauf folgenden Parteidiskussion zog das Triumvirat alle Register, um die Opposition zu zerschlagen. Die Wahlen zur XIII. Parteikonferenz vom Januar 1924 waren derart manipuliert, dass Trotzki und seine Unterstützer, trotz starker Unterstützung aus Parteiorganisationen in Petrograd, Moskau und einigen kleineren Städten, nur drei von 124 Delegierten stellen konnten. Der Sieg des Triumvirats auf dieser Konferenz markierte den entscheidenden Punkt bei der Degenerierung der Revolution. Nach Lenins Tod im selben Monat startete das Triumvirat eine Massenkampagne zur Gewinnung neuer Mitglieder (das „Leninaufgebot“) und ließ damit politisch rückständige Arbeiter, vielerlei Karrieristen, NEP-Leute und andere ungeeignete Elemente in die Partei. So begann der Prozess, der die Partei schließlich aus einer bewussten proletarischen Avantgarde in einen wankelmütigen bürokratischen Apparat an der Spitze des Staates verwandelte.

Ende 1924 nahm der bürokratische Sieg programmatische Form an, als Stalin die absurde Vorstellung verkündete, die UdSSR könne den Sozialismus auf sich alleine gestellt aufbauen, ohne Revolutionen in anderen Ländern. In den nächsten anderthalb Jahrzehnten vollführte die Sowjetbürokratie einen Zickzackkurs zwischen offener Beschwichtigungspolitik gegenüber den verschiedenen imperialistischen Mächten und haltlosem zum Scheitern verurteilten Abenteurertum, doch die Theorie vom „Sozialismus in einem Lande“ war der Dreh- und Angelpunkt des sich entwickelnden stalinistischen Dogmas. Die Kommunistische Internationale wurde aus einer Partei der internationalen Arbeiterrevolution in ein Werkzeug der Kremldiplomatie verwandelt.

Innerhalb der UdSSR selbst begann die Bürokratie die ursprüngliche NEP-Gesetzgebung aufzuweichen, die zwar freien Handel mit landwirtschaftlichen Produkten erlaubte, aber das Anheuern von Arbeitskräften und den Erwerb von Grund und Boden enorm eingeschränkt hatte. Der Sozialismus in der UdSSR sollte, in den Worten des inzwischen mit Stalin verbündeten Nikolai Bucharin, „im Schneckentempo“ aufgebaut werden. Die Beschwichtigung gegenüber den Kleinhändlern der NEP und dem reaktionären bäuerlichen Dwor hatte für die sowjetischen Frauen und Kinder ernsthafte und nachteilige Folgen. Im April 1924 wurde ein Erlass veröffentlicht, Teenager in der Landwirtschaft einzusetzen. Die Bestimmung gegen Adoption wurde in der Praxis rückgängig gemacht. Im Jahre 1926 wurden etwa 19000 obdachlose Kinder aus staatlich finanzierten Kinderheimen ausgewiesen und in erweiterten bäuerlichen Haushalten untergebracht, wo sie mit dem jahrhundertealten Holzpflug pflügen und mit Sichel und Sense mähen mussten.

Von Mitte 1926 bis Ende 1927 tat sich Trotzki mit Sinowjew und Kamenjew zusammen, die auf Druck ihrer proletarischen Basis in Leningrad (ehemals Petrograd) und Moskau mit Stalin gebrochen hatten. Die Vereinigte Opposition (VO) kämpfte gegen die Politik des „Sozialismus in einem Lande“ und für die Perspektive einer internationalen Revolution. Die VO kämpfte nicht nur für die Besteuerung der Kulaken zur Finanzierung von Investitionen in die Schwerindustrie, sondern auch für eine Politik der freiwilligen Kollektivierung der Bauernschaft und dafür, dass man „diese umfangreichste Schicht des Dorfes systematisch, Schritt für Schritt auf den Weg zur großen maschinellen Kollektivwirtschaft führt“ („Entwurf einer Plattform der Vereinigten Opposition“, September 1927, in Trotzki, Schriften 3, Linke Opposition und IV. Internationale Band 3.2 [19271928], Rasch und Röhring, Hamburg, 1997).

Von 1924 an war das Schenotdel direkt in Fraktionskämpfe der Partei verwickelt; viele prominente Aktivistinnen unterstützten die Opposition, unter ihnen die Leiterin des Schenotdel Klawdija Nikolajewa. 1925 wurde sie durch die Stalin-Unterstützerin Alexandra Artjuchina ersetzt. Während des Kampfes gegen Sinowjew und seine Leningrader Organisation mobilisierte Artjuchina Schenotdel-Arbeiterinnen für die Stalin-Fraktion, um weiterhin eine „geeinte, feste, disziplinierte leninistische Partei“ zu haben (zitiert in Hayden, a.a.O.). Artjuchina behauptete, die Arbeiterinnen könnten von der Losung der „Gleichheit“ vielleicht auf die Idee kommen, dass sie den gleichen Lohn kriegen sollten wie höher qualifizierte männliche Arbeiter, und trat dafür ein, dass das Schenotdel sich verpflichten sollte, ihnen zu erklären, weshalb Lohnunterschiede notwendig seien. In scharfem Gegensatz dazu forderte die Plattform der Vereinigten Opposition, dass Arbeiterinnen „gleichen Lohn für gleiche Arbeit“ erhalten sollten, und: „Die Qualifikation der Frauenarbeit muss erhöht werden“ („Entwurf einer Plattform der Vereinigten Opposition“).

Stalins feste Kontrolle über die Partei und den Staatsapparat erlaubte es ihm, die VO, von der die meisten führenden Mitglieder Ende 1927 aus der Partei ausgeschlossen wurden, zu verleumden und dann zu zerschlagen. Während Sinowjew und Kamenjew vor Stalin kapitulierten, wurden Trotzki und viele andere führenden Mitglieder der VO in die Verbannung ins Landesinnere geschickt. Die Bürokratisierung des internen Parteilebens hatte auf das Schenotdel eine demoralisierende Wirkung. So ging 1927 die Beteiligung an Delegiertenversammlungen stark zurück — auf nur noch 40 bis 60 Prozent der potenziellen Teilnehmerinnen im Vergleich zu 80 bis 95 Prozent in der Zeit davor.

Das Familienrecht von 1926

Die Bürokratisierung der sowjetischen Partei und des Staates war kein schneller und einheitlicher Prozess. Es dauerte Jahre, bis die Bürokratie das revolutionäre Bewusstsein völlig erstickt hatte, das auch angesichts der Verwüstung des Landes nachließ. Die leidenschaftliche Debatte über das Familienrecht von 1926 ist nur ein Beispiel für die intensive öffentliche Diskussion, die immer noch in manchen Bereichen des sowjetischen politischen Lebens stattfand. Die Bolschewiki erkannten, dass sich die gesellschaftlichen Verhältnisse nach der Revolution weiterentwickeln. Das Familienrecht von 1918 war bewusst als eine Sammlung von Übergangsgesetzen entworfen worden und wurde nie als endgültig angesehen. Debatten und Diskussionen über die Familienpolitik brodelten in der ganzen Zeit des Bürgerkriegs und der NEP. 1923 wurde ein Komitee gegründet, das ein neues Gesetzbuch entwerfen sollte. Nach einer Reihe von Entwürfen und einer intensiven öffentlichen Debatte wurde im Oktober 1925 dem ZEK ein Entwurf vorgelegt. Dort folgte ein weiteres Jahr Diskussion im nationalen Maßstab.

Wenn man den Zeitraum zwischen der befreienden Gärung der frühen Revolutionsjahre bis zur stalinistischen Rehabilitierung der Familie 1936 betrachtet, war mit dem Familienrecht von 1926 die Degeneration der sowjetischen Familienpolitik auf halbem Wege vorgedrungen. Bis 1925/26 waren die Argumente für die Abschaffung aller Ehegesetze verstummt. Stattdessen stießen Verfechter einer eher lockeren Politik, wie der Anerkennung der „faktischen“ Ehe (nach Gewohnheitsrecht) mit eher konservativen Kräften zusammen. Die Befürworter eines strengeren Zivilrechts stammten zwar überwiegend aus der Bauernschaft, zu ihnen gehörten aber auch einige Frauen aus der Arbeiterklasse, die die Verletzlichkeit von Frauen und Kindern in einer Gesellschaft ansprachen, in der die vollständige Ersetzung der Familie durch Methoden der Vergesellschaftung nicht möglich war.

Änderungen, die 1926 am Familienrecht von 1918 durchgeführt wurden, besagten unter anderem, dass Unterhaltszahlungen jetzt auch an erwerbsfähige Arbeitslose gehen sollen, anstatt wie bisher nur an erwerbsunfähige Arbeitslose, und dass die Gütergemeinschaft nun auch für Eigentum gelte, das während der Ehe erworben wurde, im Gegensatz zu der vorherigen Bestimmung, wonach die Partner nur ihr jeweiliges Eigentum behielten. Das Gesetzbuch von 1926 machte außerdem die Scheidung noch einfacher: Die „Postkartenscheidung“ war die einfache Einreichung des Wunsches nach Auflösung der Ehe durch eine der Parteien; ein Erscheinen vor Gericht war nicht mehr erforderlich. Die größte Kontroverse wurde ausgelöst durch die staatliche Anerkennung der De-facto-Ehe, dass also denjenigen, die in nicht registrierten Beziehungen zusammenlebten, der gleiche rechtliche Status gegeben wurde wie den offiziell verheirateten Paaren.

Die juristische Schwierigkeit lag vor allem in dem Problem, die Ehe unabhängig von ihrer zivilrechtlichen Registrierung zu definieren, denn im Gerichtssaal konnte es durchaus vorkommen, dass ein Mann und eine Frau geteilter Meinung darüber waren, ob eine Ehe existierte. 45 Prozent aller Unterhaltsklagen kamen von unverheirateten Frauen, die in der Schwangerschaft verlassen worden waren.

Für viele Frauen, die weniger qualifiziert, nicht so gut ausgebildet und zur Erlangung eines anständigen Lohns oder zumindest zu einer Anstellung weniger fähig waren, bedeutete eine Erleichterung der Scheidung allzu oft, vom Ehemann, der sein Recht auf „freie eheliche Verbindung“ wahrnahm, mit den Kindern in Armut und Elend zurückgelassen zu werden. Ihre abhängige Lage konnte nicht durch Gesetze zur Erleichterung der Scheidung gelöst werden, wenn es keine Beschäftigung, keine Ausbildung und keine anständigen vom Staat unterstützten Einrichtungen zur Kinderbetreuung gab. So erklärte eine Frau in einem Rabotniza-Artikel: „Frauen sind in der Mehrzahl der Fälle rückständiger, weniger qualifiziert und deshalb weniger unabhängig als Männer... Zu heiraten, Kinder zu kriegen, in der Küche versklavt zu sein und dann vom eigenen Ehemann weggeworfen zu werden — das ist für Frauen sehr schmerzlich. Aus diesem Grund bin ich gegen eine Erleichterung der Scheidung.“ Eine andere Frau bemerkte: „Wir müssen für den Erhalt der Familie kämpfen. Unterhaltszahlungen sind solange notwendig, wie der Staat nicht alle Kinder unter seine Fittiche nehmen kann“ (zitiert in Wendy Z. Goldman, „Working-Class Women and the âWithering Away‘ of the Family“ [Frauen aus der Arbeiterklasse und das âAbsterben‘ der Familie] in Russia in the Era of NEP [Russland zur Zeit der NEP], Hrsg. Fitzpatrick, Rabinovitsch and Stites [Indiana University Press, Bloomington, 1991]). Diese schrecklichen Widersprüche unterstreichen die schlichte Wahrheit, dass die Familie ersetzt werden muss und nicht einfach abgeschafft werden kann.

Zwar verliefen die Meinungsunterschiede über das vorgeschlagene Gesetzbuch nicht eindeutig zwischen der Rechten und der Linken, doch die Diskussionen entsprachen den allgemeinen Debatten in der Partei und spiegelten genauso den Druck von Klassenkräften wider. Diejenigen, die den Gesetzentwurf ablehnten, gaben in etwa den Einfluss der Bauernschaft wider, die verbissen gegen die Anerkennung der De-facto-Ehe und die Erleichterung der Scheidung war, da sie darin eine Bedrohung der Stabilität und wirtschaftlichen Einheit des Haushalts sah — ein Produkt einer „Frauenverschwörung“, des „sozialen und moralischen Chaos“ und der „Ausschweifung“ (Goldman, Women, the State and Revolution).

Die Vereinigte Opposition hatte, soweit wir wissen, keine offizielle Position zu dem Gesetz; doch Oppositionelle beteiligten sich an der Debatte. Alexander Beloborodow, der zusammen mit Trotzki 1927 aus der Partei ausgeschlossen wurde, hatte viele Einwände gegen das Gesetz; besonders beunruhigt war er über die Auswirkung familiärer Instabilität auf die Kinder, „insoweit wir nicht dazu in der Lage sind, für eine Gemeinschaftserziehung der Kinder zu sorgen, sondern verlangen, dass die Kinder in der Familie aufgezogen werden“ (zitiert in Rudolph Schlesinger, Changing Attitudes in Soviet Russia: The Family in the U.S.S.R. [Geänderte Einstellungen in Sowjetrussland: Die Familie in der UdSSR], Routledge and Kegan Paul, London, 1949). Trotzki selber verurteilte die Gegnerschaft zur Anerkennung der faktischen Ehe in einer Rede auf der Dritten Allunionskonferenz zum Schutz von Müttern und Kindern vom 7. Dezember 1925:

„Genossen, das [diese Gegnerschaft] ist so ungeheuerlich, dass es einen wundert: Leben wir in einer Gesellschaft, die sich in eine sozialistische verwandelt…? Nicht nur, dass die Einstellung zur Frau hier nicht kommunistisch ist, nein, sie ist reaktionär und philisterhaft im schlimmsten Sinne des Wortes. Wie kann man annehmen, dass die Rechte der Frau, die die Folgen jeder Heirat unabhängig von der Dauer der Beziehung zu tragen hat, in unserem Land zu stark geschützt würden... Aber es ist symptomatisch und beweist, dass es in unseren traditionellen Ansichten, Vorstellungen und Gewohnheiten vieles gibt, das wirklich dumm ist und mit einem Rammbock zerstört werden muss.“

—Trotzki, „Der Schutz der Mutter und der Kampf für Kultur“, Fragen des Alltagslebens

Zwangskollektivierung und der Fünfjahresplan

1928 war es durch die Politik der Bürokratie zu der von der Opposition vorhergesagten Katastrophe gekommen: Die wohlhabenden Bauern, die sich auf Wunsch der Bürokratie „bereichert“ hatten, begannen mangels staatlicher wirtschaftlicher Anreize Getreide zu horten, denn es gab kaum etwas, das sie mit dem Erlös hätten kaufen können. Weil Stalin die Städte nicht ernähren konnte, machte er eine Kehrtwendung. Er wandte sich gegen seinen Verbündeten Bucharin und kollektivierte innerhalb von vier Monaten gewaltsam die Hälfte der Bauernschaft im ganzen Land. Die Bauern reagierten mit Sabotage und töteten viele Hoftiere, darunter mehr als 50 Prozent der Pferde des Landes. Bei den darauf folgenden sozialen Unruhen bis Anfang der 30er-Jahre kamen mehr als drei Millionen Menschen um.

Gleichzeitig gab Stalin die Politik des Aufbaus des Sozialismus „im Schneckentempo“ auf und nahm einen dringend benötigten Industrialisierungsplan an, der allerdings auf ein rücksichtsloses und mörderisches Tempo hochgetrieben wurde. Die daraus resultierende wirtschaftliche Entwicklung führte zu einer qualitativen Veränderung der Bedingungen für arbeitende Frauen. Damit sie arbeiten konnten, schossen in den Wohnvierteln und Fabriken über Nacht Kinderbetreuungszentren und Kantinen aus dem Boden. „Nieder mit der Küche!“, tönte ein Propagandist:

„Wir werden dieses kleine Gefängnis zerstören. Wir werden Millionen von Frauen von der Hausarbeit befreien. Sie wollen arbeiten, wie wir auch. In einer Fabrikküche kann eine Person fünfzig bis hundert Hauptmahlzeiten pro Tag zubereiten. Wir werden Maschinen dazu bringen, Kartoffeln zu schälen, Geschirr zu spülen, Brot zu schneiden, Suppe umzurühren und Eiscreme herzustellen.“

„Der Kochtopf ist der Feind der Parteizelle“ und „Weg mit Töpfen und Pfannen“ wurden zu Parteiparolen (zitiert in Stites, Women’s Liberation Movement in Russia).

Doch die Wirtschaftsplanung in der UdSSR basierte nicht auf der demokratischen Einflussnahme der Arbeiter, sondern auf bürokratischer Anordnung. Die Errungenschaften der Industrialisierung waren enorm, wurden aber auf Kosten der Qualität der Produkte und bei großer bürokratischer Ineffizienz erreicht. Trotz dieser Probleme war die Sowjetunion das einzige Land im 20. Jahrhundert, das sich aus einem rückständigen, überwiegend bäuerlichen Land zu einer fortgeschrittenen Industriemacht entwickeln konnte. Das bestätigt, was für ein gewaltiger Anstoß für das menschliche Wohlergehen — nicht zuletzt für den Status der Frauen — aus der Abschaffung des Kapitalismus und der Errichtung einer kollektivierten Planwirtschaft, selbst in einem einzigen Lande, hervorgehen kann. Nur aufgrund dieser industriellen Entwicklung war die UdSSR dazu imstande, den Angriff von Hitlers Armeen im Zweiten Weltkrieg zurückzuschlagen, wenn auch auf Kosten von 27 Millionen Toten auf sowjetischer Seite. Gleichzeitig hemmte die Bürokratie die Gesellschaft bis in all ihre Poren, was zu Verschwendung, Repression und Willkür führte, und sie arbeitete daran, die internationale Ausweitung der Revolution — die einzige wirkliche und langfristige Verteidigung der Errungenschaften des Oktober — zu verhindern.

Obwohl Frauen im Zuge der Industrialisierung wirkliche Fortschritte erzielten, hatte die Bürokratie das kommunistische Engagement für den Kampf um Frauenbefreiung aufgegeben. Sie benutzte das rhetorische Abenteurertum der damaligen Zeit, um ihren Rückzug zu verschleiern. Groteskerweise verkündete die Regierung 1930, dass die Frauenfrage offiziell gelöst worden sei. Gleichzeitig wurde das Schenotdel aufgelöst; das Vorspiel dazu war 1926 die Auflösung des Internationalen Frauensekretariats gewesen, das zur Frauenabteilung des Exekutivkomitees der Komintern degradiert worden war. Die Auflösung des Schenotdel wurde 1929 unter dem Deckmantel einer „Reorganisation“ der Partei vorgebracht, mit der Behauptung, Arbeit unter Frauen würde zur Aufgabe der gesamten Partei werden. Doch diese Worte, den revolutionären Jahren entliehen, waren jetzt nur eine Verschleierung von Tatenlosigkeit und Rückzug.

1936 und der Triumph der „sozialistischen Familie“

1929 proklamierte die Kommunistische Partei immer noch die Losung des Absterbens der Familie. Erst 1936/37, als die Degeneration der russischen KP vollendet war, wurde das in der stalinistischen Doktrin zum „groben Fehler“ gestempelt, indem man nunmehr zum „Wiederaufbau der Familie auf neuer sozialistischer Grundlage“ aufrief. Das dritte Familienrecht, das 1936 in Kraft trat, erschwerte zudem die Ehescheidung, indem es das Erscheinen vor Gericht, höhere Gebühren und die Eintragung der Scheidung in die Inlandspässe der Geschiedenen verlangte zur Vorbeugung gegen „einen kriminell unverantwortlichen Gebrauch dieses Rechtes, der das sozialistische Gemeinschaftsleben desorganisiert“ (Schlesinger, The Family in the U.S.S.R.).

Die offizielle Verherrlichung des Familienlebens und die Abkehr von der bolschewistischen Ehescheidungs- und Abtreibungspolitik waren ein wesentlicher Bestandteil der politischen Konterrevolution, die der Arbeiterklasse die politische Macht entriss. Trotzki ging darauf ausführlich ein:

„Das materielle und kulturelle Versagen der Staates führte zur feierlichen Rehabilitierung der Familie, die — welch ein Wunder der Vorsehung — auch gleich mit der Rehabilitierung des Rubels zusammenfiel. Statt offen zu sagen: âEs hat sich gezeigt, dass wir noch zu arm und zu roh sind, um sozialistische Beziehungen zwischen den Menschen zu schaffen — diese Aufgabe werden unsere Kinder und Enkel erfüllen‘, verlangen die Führer nicht nur, die Scherben der zerbrochenen Familie wieder zu kitten, sondern auch — unter Androhung schlimmster Strafen —, in ihr die geheiligte Grundzelle des siegreichen Sozialismus zu sehen. Das Ausmaß dieses Rückzugs ist mit bloßem Auge nicht zu ermessen“

Verratene Revolution

Die bolschewistische Verpflichtung zur Nichteinmischung in das Privatleben der Bevölkerung wurde abgelehnt: So erklärte man, die Theorie vom „Absterben der Familie“ führe zu sexuellen Ausschweifungen, und gleichzeitig begann man in der sowjetischen Presse gegen Mitte der 30er-Jahre das Loblied auf die „gute Hausfrau“ anzustimmen. Ein Leitartikel der Prawda von 1936 prangerte einen Wohnungsbauplan ohne Einzelküchen als eine „linke Abweichung“ an und als einen Versuch, „künstlich gemeinschaftliche Lebensweisen einzuführen“. Wie Trotzki sagte: „Der Rückzug nimmt nicht nur die Form einer abscheulichen Heuchelei an, sondern geht im Grunde viel weiter, als es angesichts der Wirtschaftslage erforderlich wäre.“

Zum großen Unglück für sowjetische Frauen kriminalisierte das Familienrecht von 1936 die Abtreibung, und die Sterberate infolge von Abtreibungen schoss in die Höhe. Gleichzeitig begann die Regierung „Auszeichnungen für Heldinnen“ an Frauen mit vielen Kindern auszuteilen, und Funktionäre verfügten, dass in der Sowjetunion „das Leben glücklich“ sei und Frauen nur aus Eigennutz eine Abtreibung hätten. Das Familienrecht von 1944 nahm die Anerkennung von De-facto-Ehen zurück, führte den erniedrigenden Begriff der „Unehelichkeit“ wieder ein, schaffte die Koedukation an den Schulen ab und verbot Vaterschaftsprozesse. Erst 1955 wurde Abtreibung in der UdSSR wieder legal.

1991/92: kapitalistische Konterrevolution trampelt auf den Frauen herum

In den 30er-Jahren sagte Trotzki voraus, dass die Kremlbürokratie an der wirtschaftlichen Front eine Sackgasse erreichen würde, wenn es notwendig werde, vom einfachen quantitativen Wachstum zur Verbesserung der Qualität überzugehen, von extensivem zu intensivem Wachstum. Er forderte eine „Neuausrichtung der Planwirtschaft von oben bis unten, den Bedürfnissen der Produzenten und Konsumenten entsprechend!“ (Übergangsprogramm, 1938). Diese wirtschaftlichen Probleme, die zu einem großen Teil den anhaltenden Druck des Weltimperialismus auf den sowjetischen Arbeiterstaat widerspiegelten, spitzten sich in den 70er- und 80er-Jahren zu.

Boris Jelzin, der dort weitermachte, wo der moderate Michail Gorbatschow vor den zwangsläufig harten Maßnahmen zur Wiedereinführung einer vollständig kapitalistischen Wirtschaft zurückgeschreckt hatte, übernahm im August 1991 die Macht. Im Laufe des nächsten Jahres, als es keinen Widerstand der Arbeiterklasse gab, triumphierte die kapitalistische Konterrevolution in Russland: eine welthistorische Niederlage für die proletarische Revolution. Die UdSSR wurde auseinander gerissen und durch untereinander feindliche nationalistische Regime ersetzt. Seitdem hat sich die Lage für alle, außer einer winzigen Minderheit ganz oben, dramatisch verschlechtert — doch für Frauen und Kinder am allermeisten. Die große Mehrheit der Bevölkerung wurde in äußerste Armut und chronische Arbeitslosigkeit gestürzt. Das umfangreiche System der Kinderbetreuung und der Unterstützung für Mütter ist verschwunden, die Besprizorniki sind zurück, die Prostitution blüht und Frauen in Zentralasien sind um Jahrhunderte zurückgeworfen worden.

Die Internationale Kommunistische Liga begreift die bittere Realität, dass sich angesichts dieser beispiellosen Niederlagen das politische Bewusstsein zurückentwickelt hat. Eine unserer wichtigsten Aufgaben ist der Kampf, das marxistische Programm zu begründen und zu verdeutlichen; es vom Dreck des stalinistischen Verrats und den Lügen kapitalistischer Ideologen zu befreien. Diese Untersuchung über den bolschewistischen Kampf für die Emanzipation der Frauen beweist, wie viel trotz der Armut, der imperialistischen Strangulation und der späteren stalinistischen Degeneration der UdSSR erreicht werden konnte, und bezeugt, welche Zukunft eine weltweite kollektive Planwirtschaft — das Resultat neuer Oktoberrevolutionen — den Ausgebeuteten und Unterdrückten der Welt zu bieten hat. Unsere langfristige historische Perspektive einer sozialistischen Zukunft — eine neue Lebensweise, die sich erst nach der Ausmerzung der tief verwurzelten, von kapitalistischer Ausbeutung erzeugten Ungleichheit und Unterdrückung entwickeln kann — hat Trotzki in ihren Umrissen dargestellt:

„Der Marxismus sieht in der Entwicklung der Technik die Haupttriebfeder des Fortschritts und baut das kommunistische Programm auf der Dynamik der Produktivkräfte auf. Würde eine kosmische Katastrophe über kurz oder lang unseren Planeten zerstören, müsste man auf die kommunistische Perspektive wie auf vieles andere verzichten. Abgesehen von dieser einstweilen nur hypothetischen Gefahr, gibt es wissenschaftlich gesehen überhaupt keinen Anlass, unseren technischen, produktiven und kulturellen Möglichkeiten irgendwelche Grenzen zu ziehen. Der Marxismus ist zutiefst vom Fortschrittsoptimismus durchdrungen und — nebenbei gesagt — schon deswegen ein unversöhnlicher Gegner der Religion.

Die materielle Voraussetzung des Kommunismus ist eine so hohe Entwicklung der wirtschaftlichen Potenz des Menschen, dass die produktive Arbeit aufhört, eine Last und Mühsal zu bedeuten, und der Antreiberei nicht mehr bedarf; die Verteilung der ständig im Überfluss vorhandenen Konsumgüter bedarf dann — wie heutzutage in wohlhabenden Familien oder in einer âanständigen‘ Pension — keiner anderen Kontrolle mehr als der durch die Erziehung, die Gewohnheit und die öffentliche Meinung.“

Verratene Revolution