Rassismus, Sexismus, Religion und Hetze gegen Muslime

Frauen und Immigration in Frankreich

Spartacist (deutsche Ausgabe) Nr. 23, Frühjahr 2003. Übersetzt aus Spartacist (englische Ausgabe) Nr. 57, Winter 2002/03.

Dieser Artikel ist die redigierte und erweiterte Fassung eines Vortrags der Genossin Alison Spencer, den sie auf einer öffentlichen Schulungsveranstaltung der Ligue trotskyste de France (LTF) am 16. Mai 2002 hielt. Auf derselben Veranstaltung wurde auch ein Vortrag über „Trotzkismus, was er ist und was er nicht ist“ gehalten (veröffentlicht in Le Bolchévik Nr. 160, Sommer 2002); dieser Artikel, der von den Präsidentschaftswahlen in Frankreich ausging, zeichnete die Geschichte des Kampfes für authentischen Trotzkismus gegen Revisionismus und Klassenzusammenarbeit nach. Genossin Spencers Vortrag wurde in Le Bolchévik Nr. 161, Herbst 2002, nachgedruckt.

Der französische utopische Sozialist Charles Fourier hat erklärt, dass die Stellung der Frau in der Gesellschaft ein sehr genauer Maßstab dafür ist, inwieweit die soziale Unterdrückung in der Gesellschaft allgemein beseitigt ist. Gerade jetzt in Frankreich sind etwa 70000 junge Frauen von arrangierten Eheschließungen bedroht. Ungefähr 35000 junge Frauen leiden an den Folgen ihrer genitalen Verstümmelung oder sind davon bedroht, verstümmelt zu werden. Diese Zahlen wurden im Januar 2002 bekannt gegeben. Um eine Vorstellung zu geben, in welchem Maße die Frauenunterdrückung als Maßstab für das allgemeine Niveau der Unterdrückung in dieser Gesellschaft zugenommen hat: Vor zehn Jahren ergaben die Zahlen, dass etwa 10000 junge Frauen von genitaler Verstümmelung bedroht waren — das ist ein Anstieg von 250 Prozent in zehn Jahren. Nach dem Indikator Charles Fouriers zeigen diese Zahlen einen alarmierenden Rückschritt und eine wirkliche Verschärfung der sozialen Unterdrückung in diesem Lande.

Diese Gesellschaft, die im Gewande von „Freiheit und Gleichheit“ auftritt, ist vor allem für junge Mädchen und Frauen aus Immigrantenfamilien eine ausgesprochene Hölle. Weibliche genitale Verstümmelung und die Zwangsehe treten nicht offen in Erscheinung. Diese Schrecken und tödlichen Bedrohungen ereignen sich im Kreis der Familie. Die Eskalation der Frauenunterdrückung und der wachsende Einfluss der Religion läßt sich aber leicht an der zunehmenden Verbreitung des Schleiers ablesen. Dafür gibt es keine Erhebungen, den Schleier sieht man aber ständig auf der Straße, und mehr und mehr sieht man den islamischen Tschador (und nicht nur das Kopftuch), ein Symbol für die vollkommene Absonderung der Frauen von der Gesellschaft und ihre Unterjochung in der Familie.

Wir sagen, dass demokratische Rechte unteilbar sind und dass ein Angriff auf einen ein Angriff auf alle ist. Ich werde darlegen, wie diese Verschärfung der Frauenunterdrückung in direktem Zusammenhang steht mit der arbeiterfeindlichen, immigrantenfeindlichen Politik des französischen Staates, an dessen Spitze seit Jahren eine so genannte „Linksregierung“ steht. Aber zuallererst müssen wir uns die Ursachen für die Zunahme religiösen Einflusses und frauenfeindlicher Praktiken ansehen.

Das Kopftuch und die Republik

1989 erschienen mitten bei den Feiern zum zweihunderts ten Jahrestag der Französischen Revolution in einem Gymnasium drei junge Frauen mit Kopftüchern. Es gab einen sofortigen Ausbruch von frömmlerischem „Säkularismus“, ein Deckmantel für bornierte Vorurteile gegen Muslime, und diese nordafrikanischen jungen Frauen wurden aus der öffentlichen Schule ausgeschlossen und in den Schoß der Familie zurückgestoßen, unter Berufung auf die „Werte der Republik“. In Wirklichkeit verfälschte der französische Staat die Ziele und Werte der Französischen Revolution mit seinem Angriff auf diese muslimischen jungen Frauen. Unter dem Ancien Régime des französischen Königs galt Frankreich als die „älteste Tochter der Kirche“. Das Prinzip des Säkularismus in der Französischen Revolution ergab sich aus der Notwendigkeit, die freie Meinungsäußerung zu schützen und die Gesellschaft aus den Händen der katholischen Kirche zu befreien. Dass dieses Prinzip heute in der französischen Gesellschaft von der katholischen Mehrheit zur Unterdrückung einer muslimischen Minderheit miss braucht wird, ist eine grausame Ironie der Geschichte. Dies unterstreicht das Ausmaß der Degeneration der französischen Bourgeoisie im Zeitalter des kapitalistischen Niedergangs gegenüber der Klasse, die die Revolution von 1789 angeführt hat, die eine historische Wasserscheide im Kampf für die menschliche Emanzipation darstellte.

In den öffentlichen Schulen Frankreichs ist das Tragen von Kruzifixen nicht verboten. Diese Kampagne gegen die jungen Frauen mit Kopftüchern war nur der Anfang einer verschärften reaktionären rassistischen Kampagne gegen den „Islam in Frankreich“, eine Kampagne, die sich insbesondere gegen die Menschen nordafrikanischer Abstammung in diesem Lande richtet. Im Gegensatz zu der hysterischen Kampagne gegen den „Import von algerischem Fundamentalismus“ nach Frankreich weisen wissenschaftliche Umfragen nach, dass in Wirklichkeit die Jugendlichen algerischer Abstammung weniger religiös sind als gebürtige Franzosen. (Vielleicht sind viele Leute deshalb gegenteiliger Meinung, weil das Kopftuch ein so sichtbares religiöses Zeichen ist.) Laut der 1992 von INED (Nationales Institut für demographische Studien) durchgeführten Umfrage sagen 30 Prozent der männlichen Befragten, die in Frankreich geboren sind und deren beide Elternteile in Algerien geboren wurden, dass sie keinerlei Religion haben. Ganze 60 Prozent derjenigen, die nur einen in Algerien geborenen Elternteil haben, geben an, keine Religion zu haben. Bei Frauen sind die Zahlen 30 und 58 Prozent. Aber von den gebürtigen Franzosen geben nur 27 Prozent der Männer und 20 Prozent der Frauen an, keine Religion zu haben.

Die katholische Kirche hat in der französischen Gesellschaft ein erhebliches Gewicht. Bei den jüngsten Präsidentschaftswahlen hatte die Kirche de facto zwei Kandidaten im Rennen, Bayrou und Boutin. Nicht einmal der Bürgermeis ter von Paris kann die katholische Kirche aus den Stundenplänen der öffentlichen Schulen raushalten, da die Kirche darauf besteht, dass der Mittwoch für den Katechismus frei gehalten wird. Warum also rüstet der Staat nicht in heller Aufruhr, um das Prinzip des Säkularismus gegen Übergriffe der französischen katholischen Kirche zu verteidigen? Die katholische Hierarchie und die katholische religiöse Ideologie sind für die herrschende Klasse einfach zu nützlich als Stütze des sozialen Konservatismus und zur Sanktionierung der kapitalistischen Klassenherrschaft. Auf der anderen Seite ermöglicht antimuslimischer „Säkularismus“ es den Herrschern, die Arbeiter zu spalten und diese militante Schicht nordafrikanischer Arbeiter von ihren Klassenbrüdern in diesem Land abzusondern. Über zweihundert Jahre nach der Großen Französischen Revolution sind die öffentlichen Schulen in der französischen Republik einer der Hauptorte zum Einimpfen rassistischer antiarabischer Wertvorstellungen in Frankreich.

Zur Zeit der Aufregung über das Kopftuch schrieb die LTF: „In diesem durch Chauvinismus und rassistischen Terror verrotteten Land können diese Ausschlüsse nur einen Akt rassischer Diskriminierung darstellen. Gerade deswegen verurteilen wir sie... Es ist klar, dass muslimischer Fundamentalismus in diesem Lande nur die Ideologie einer furchtbar unterdrückten Gemeinschaft sein kann, die jede Hoffnung verloren hat, innerhalb der Gesellschaft, in der sie lebt, eine Perspektive zur Beseitigung dieser Unterdrückung zu finden“ („Nieder mit der immigrantenfeindlichen Kampag ne!“, Le Bolchévik Nr. 97, November/Dezember 1989).

Wir haben schon immer für die Trennung von Kirche und Staat sowie Moschee und Staat gekämpft, gegen die Fundamentalisten, die selbst die kleinsten Einzelheiten des Privatlebens durch die reaktionären, frauenfeindlichen Einschränkungen des Korans reglementieren wollen. Aber in Frankreich, wo der Islam nur eine Ideologie des Ghettos sein kann, die die soziale Absonderung hinnimmt, ist der Hauptfeind nicht der islamische Fundamentalismus, sondern der kapitalistische Staat des französischen Imperialismus, der arbeiter- und frauenfeindlich ist und die arbeitenden Massen in Algerien, in Afrika und hier unterdrückt.

Zur selben Zeit, als wir diese jungen verschleierten Frauen in Frankreich verteidigten, begrüßten wir es, dass die Rote Armee in Afghanistan intervenierte, um die auf Modernisierung setzende linksbürgerliche nationalistische DVPA-Regierung zu verteidigen. Die Rote Armee bekämpfte die Fundamentalisten, die unverschleierten Frauen Säure ins Gesicht schütteten und Lehrer töteten, die jungen Mädchen das Lesen beibrachten. Wir verurteilten den Abzug der sowjetischen Truppen als Verrat an den afghanischen Frauen. Wir kämpften für die Ausweitung der Errungenschaften der Russischen Revolution vom Oktober 1917 auf die afghanischen Frauen. Gibt es einen Widerspruch zwischen unserer damaligen Position zum Kopftuch in Frankreich und zum Schleier in Afghanistan? Überhaupt nicht. Die Frage war jedes Mal, wie die Interessen der Frauen und des Proletariats international am besten zu verteidigen sind. In Frankreich litt die nordafrikanische Bevölkerung täglich unter Absonderung und rassistischem Terror und wurde von den chauvinistischen Führern der Gewerkschaften und der Linksparteien an den Rand gedrängt. Es war also verständlich, dass einige junge Frauen Zuflucht in der Religion suchten und die illusorische Hoffnung hegten, dort Würde zu finden. Aus diesem Grund nannte Marx die Religion „das Gemüt einer herzlosen Welt“. Der marxistische Kampf gegen religiösen Obskurantismus ist untrennbar verbunden mit dem Kampf zur Beseitigung der materiellen Bedingungen in dieser Welt, die das Bedürfnis hervorbringen, sich in Gottesfantasien zu flüchten. Mit anderen Worten, unser Kampf ist untrennbar verbunden mit dem Kampf für die internationale sozialistische Revolution. In Afghanistan setzte die Intervention der Roten Armee eine Ausweitung der Errungenschaften der Oktoberrevolution auf die Tagesordnung, und das war für die afghanischen Frauen eine Frage von Leben und Tod gegen die mörderischen Mudschaheddin.

Dem gegenüber weigerte sich die französische Pseudolinke, Frauen gegen die vom Imperialismus unterstützte Reaktion in Afghanistan und gegen die rassistischen Kampagnen der französischen Bourgeoisie im eigenen Land zu verteidigen. Die Ligue communiste révolutionnaire (LCR) und ihre internationalen Verbündeten des Vereinigten Sekretariats, damals unter der Führung von Ernest Mandel, riefen offen zum Rückzug der Roten Armee aus Afghanistan auf und stellten sich so auf die Seite der Mullahs und der CIA gegen die Sowjetunion und die afghanischen Frauen. Lutte ouvrière (LO) verhielt sich etwas ausweichender, bezog aber die gleiche Seite, indem LO die sowjetische Intervention in Afghanistan mit dem Auftreten des französischen und amerikanischen Imperialismus in Vietnam verglich. Während in der Zwischenzeit LO offen den Schulausschluss der verschleierten jungen Frauen durch die französische Regierung unterstützte, lehnte die LCR die Ausschlüsse widerwillig ab, fuhr aber fort, Mitterrands Volksfrontregierung, die diese rassistische Kampagne angezettelt hatte, loyal zu unterstützen und Illusionen in sie zu verbreiten. Und unter der letzten Volksfront — der von Jospin geführten Koalitionsregierung aus Sozialisten, Kommunisten und Grünen — sagte LO rein gar nichts gegen die immigrantenfeindlichen Polizeistaatsmaßnahmen von Vigipirate, während sich die LCR erst ganz am Ende von Jospins Regierungszeit zum Protest gegen diese rassistische Repression aufraffen konnte.

Der Einsatz von heuchlerischem „Säkularismus“ gegen junge muslimische Frauen im heutigen Frankreich kündigte sich bereits während des Algerienkriegs an. Der Imperialismus hatte von jeher keine Skrupel, sich mit den reaktio närsten örtlichen Herrschern und den rückständigsten sozialen Institutionen zu verbünden, um den ungestörten Pro fit fluss aus den Kolonien sicherzustellen. Aber als sich die alge rischen Massen gegen die Kolonialherren erhoben, „entdeckte“ die französische Verwaltung, die einer Armee von Folterknechten vorstand, auf einmal die Menschenrechte der unterdrückten algerischen Frauen, in der Hoffnung, sich eine Stütze zur weiteren Unterjochung des Landes zu schaffen. Wie wir in den 70er-Jahren in einem Artikel zu sammenfassten:

„Die Franzosen benutzten die Erniedrigung der Frauen im Islam, um damit zu rechtfertigen, dass sie den Muslimen demokratische Rechte verweigerten, insbesondere das Wahlrecht. Die Algerier reagierten mit einer Verschärfung muslimischer Orthodoxie und priesen ihre Frauen als die Bewahrer ihrer echten Kultur gegenüber französischem Einfluss. Aufgrund ihrer Abgesondertheit waren algerische Frauen in der Tat weniger von französischem Einfluss berührt als algerische Männer, obgleich die Franzosen sich besonders bemühten, sie zu erreichen. Während des nationalen Befreiungskampfes initiierten die Franzosen öffentliche pro-französische Entschleierungen muslimischer Frauen und organisierten eine Frauensolidaritätsbewegung, die ihnen medizinische Versorgung, juristischen Beistand, Geschenke und Ausbildung anbot, ein Versuch, sie aus ihrer Isolation zu holen und in den Dienst des französischen Imperialismus zu stellen.“

— „The Private Life of Islam: A Review“ [Buchbesprechung: Das Privatleben im Islam] Women and Revolution Nr. 10, Winter 1975/76

Als Reaktion auf den Rassismus der Kampagne des französischen Imperialismus „für Frauen“, zu der es auch ge hörte, Frauen gewaltsam den Schleier herunterzureißen und die Schleier in „Freudenfeuern“ zu verbrennen, verstieß die FLN [Front de Libération National — Nationale Befreiungsfront] diese Frauen öffentlich als Huren und stellte die Losung auf: „Für ein freies Algerien, nicht eine freie französische Frau!“ Unfähig, ein authentisches sozialistisches Programm für Frauen aufzustellen — das sie von den Fesseln des Islam wie auch des französischen Imperialismus hätte befreien können —, machten die algerischen Nationalisten den Schleier zu ihrem Symbol! Sie erhoben die Frauenunterdrückung auf das Podest der Revolution.

Die nationale Befreiung Algeriens von der Herrschaft des französischen Imperialismus war ein Sieg, den Marxis ten leidenschaftlich verteidigen. Aber die Unfähigkeit des bürgerlichen Nationalismus, die unterdrückten Massen der so genannten „Dritten Welt“ wirklich von Armut, sozialer Rückständigkeit und imperialistischer Ausplünderung zu be freien, zeigt sich nirgendwo deutlicher als im Falle des unabhän gigen Algeriens. Dort befinden sich Frauen, die zu den Waffen gegriffen und heldenhaft an der Seite der Männer im Algerienkrieg gekämpft haben, sowie ihre Töchter und Enkelinnen jetzt unter dem Joch der offiziellen frauenfeindlichen Vorschriften des „islamischen Gesetzes“ und fallen dem Terror der Fundamentalisten zum Opfer, die von großen Teilen der verzweifelten Bevölkerung als Alternative zum bankrotten, brutalen FLN-Militärregime unterstützt werden. Erst durch greifende sozialistische Revolutionen in der gesamten Region können den Frauen und Männern Algeriens eine Zukunft eröffnen und würden auch dem revolutionären Kampf in den imperialistischen Zentren einen großen Auftrieb geben. Entsprechend würde die Eroberung der Macht durch die Arbeiterklasse hier in Frankreich, wie auch in anderen imperialistischen Ländern, direkt hinführen zu einer Befreiung der nordafrikanischen Länder durch eine sozialis tische Revolution.

Kapitalistische Konterrevolution und Religion

Die zweite Runde in der Geschichte mit dem Kopftuch fand 1994 statt, als einhundert Mädchen von der Schule ausgeschlossen wurden. Der internationale Zusammenhang ist wichtig, um zweierlei zu verstehen: den Aufschwung der Religion und die Zunahme von Regierungsangriffen auf die Arbeiterklasse, die Frauen und Immigranten. Ein entscheidendes Ereignis war die kapitalistische Konterrevolution in der Sowjetunion und in ganz Osteuropa in den Jahren 1990–92 — eine gewaltige Niederlage für die Arbeiterbewegung international —, die von praktisch der gesamten „Linken“ willkommen geheißen wurde.

Reaktionäre Ideen schlagen Wurzeln und wachsen in reaktionären Perioden, und gerade seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion hat Fundamentalismus jeglicher Art Konjunktur: protestantischer Fundamentalismus in Amerika (die Bombenattentäter gegen Abtreibungskliniken, der KKK und die Bush-Regierung, die die wissenschaftliche Tatsache der Evolution begraben und die „Schöpfungstheorie“ in den Schulen unterrichten lassen will); orthodox-jüdischer Fundamentalismus in Israel; ein immer weiter reichender Einfluss der katholischen Kirche auf die Zivilgesellschaft in Europa; und islamischer Fundamentalismus in den muslimischen Ländern und den europäischen Zentren mit einem starken muslimischen Bevölkerungsanteil. Der Aufschwung der Religion ist nicht nur ein Ergebnis der Konterrevolution; sie war auch ein Werkzeug der Imperialisten, um die Reaktion in den deformierten Arbeiterstaaten und gegen diese anzuheizen. Alle Varianten vom „Opium des Volks“, wie Marx die Religion nannte, werden in dieser Zeit ungehemmt weiterverbreitet. Die Zunahme dieses falschen Bewusstseins hat seine Wurzeln in Hoffnungslosigkeit und in der Lüge, dass Klassenkampf und authentischer Kommunismus ein alter Hut seien.

Die Kapitalistenklasse, die den von den Arbeitern erzeugten Reichtum stiehlt, benötigt einen Sündenbock, um die Klassenkämpfe, die trotz des Rückschritts im politischen Bewusstsein weiterhin ausbrechen, zum Entgleisen zu bringen. Die Arbeiterklasse will sich gegen kapitalistische Angriffe verteidigen. Seit dem Fall der Berliner Mauer haben die westlichen Bourgeoisien die „rote Gefahr“, die früher durch die Sowjetunion verkörpert wurde, durch die „grüne Gefahr“ des Islam ersetzt. Der Golfkrieg — die Bombardierung und vor allem die Sanktionen der Vereinten Nationen, die über anderthalb Millionen Irakern Hunger und Tod brachten — hatte einen großen Einfluss auf die nordafrikanische und muslimische Bevölkerung in Frankreich. Der Vigipirate-Plan zur verstärkten staatlichen Repression gegen Minderheiten, der allen imperialistischen Ländern als Vorbild für die Unterdrückung des „inneren Feindes“ diente, wurde in Frankreich zur Zeit des Golfkriegs in Kraft gesetzt.

Landesweit fanden in Frankreich wirtschaftliche und politische Änderungen statt, die dunkelhäutige Menschen schrecklich an den Rand drängten und die ebenso zur Verschärfung der Frauenunterdrückung beitrugen. Eine erneute kapitalistische Wirtschaftskrise brachte ein Ansteigen von Arbeitslosigkeit und Entlassungen. Die Kinder der Väter, die nach dem Zweiten Weltkrieg den Reichtum Frankreichs geschaffen haben, haben nicht mehr die Möglichkeit, einen Arbeitsplatz zu finden wie ihre Väter, die selber die am meis ten ausgebeutete und am schlechtesten bezahlte Schicht des Proletariats waren. Die Fabriken, in denen ihre immigrierten Väter arbeiteten, sind jetzt geschlossen oder sie entlassen Leute. Jugendliche aus Immigrantenfamilien werden als überschüssige Bevölkerung behandelt, für die die Bourgeoisie keine Verwendung hat. Ohne die Aussicht, durch wirtschaftliche Ausbeutung dieser Jugendlichen Kosten wieder reinzuholen und Profite zu erzielen, ist die Bourgeoisie nicht motiviert, Geld in Schulen oder Minderheitenviertel zu investieren. Die einzige „Wachstumsindustrie“ dort sind Polizei und Gefängnisse.

Je nach wirtschaftlichem Bedarf führt der Kapitalismus den untersten Schichten des Proletariats neue Quellen billigerer Arbeitskraft zu, hauptsächlich Immigranten aus ärmeren Ländern, die in Zeiten des wirtschaftlichen Rückgangs als Wegwerfartikel angesehen werden. Aus diesem Grunde kämpfen wir von der IKL für die Einheit und Integrität der Arbeiterklasse gegen Chauvinismus und Rassismus. In jedem Land, wo wir existieren, kämpft die IKL dafür, die Lüge von „nationaler Einheit“ zwischen Arbeitern und Bossen zu entlarven und das Proletariat in Klassensolidarität mit den Immigranten und Minderheiten zu mobilisieren.

Die Versuche der Bourgeoisie, Immigranten und ihre Kinder für die Arbeitslosigkeit verantwortlich zu machen und Jugendliche aus Minderheiten mit „Kriminalität“ und sozialer „Unsicherheit“ gleichzusetzen, waren zweifellos Wasser auf die Mühlen faschistischer Demagogen wie Le Pen. Aber im Grunde ist das Sprießen rassistischer Feindseligkeit gegen Immigranten eine Widerspiegelung der sozialen Ausgrenzung dieser Schichten in einer schrumpfenden Wirtschaft. Wie wir in einem Artikel von 1996 über Immigranten in Europa erklärten:

„Es ist in der europäischen Linken üblich, die steigende Flut des immigrantenfeindlichen Rassismus der Demagogie der ,extrem‘ rechten Gruppen zuzuschreiben. Aber die Faschisten drücken einfach nur auf offene, unverblümte und gewalttätige Weise die ökonomischen und politischen Interessen der herrschenden Klassen Europas zum gegenwärtigen Zeitpunkt aus. Das europäische Kapital hat jetzt keinen Bedarf an zusätzlichen importierten Arbeitskräften aus Dritte-Welt-Ländern, während Immigranten-Jugendliche der zweiten Generation als ökonomisch überflüssig gelten und für eine Quelle sozialer Unruhen gehalten werden...

Der Kampf gegen immigrantenfeindlichen Rassismus muß nicht nur militant gegen die Faschisten geführt werden, sondern auch genauso auf der politischen Ebene gegen die reformistischen Irreführer der Arbeiterbewegung.“

— „Immigration und die rassistische ,Festung Europa‘“, Spartacist, französische Ausgabe Nr. 29, Sommer 1996, nachgedruckt in Spartakist Nr. 127, April 1997

Selbst vor dem gegenwärtigen wirtschaftlichen Ab schwung haben Untersuchungen über Arbeitslosigkeit in Frankreich gezeigt, dass es eine besondere Diskriminierung junger algerischer Männer gibt, sogar im Vergleich zu anderen jungen nordafrikanischen Männern. Frankreich hat nie vergessen, dass Algerien gegen den französischen Imperialismus ge kämpft und gewonnen hat. Die Arbeitslosenquote bei algerischen Jugendlichen im Alter von 20 bis 29 Jahren, die einen höheren Schulabschluss haben, ist 39 Prozent, während sie für Spanier, Portugiesen und Franzosen 10 Prozent beträgt. Damit ist sie bei den algerischen jungen Männern fast viermal so hoch. Junge Algerierinnen leiden auch unter Arbeitslosigkeit, doch es gibt eine Schicht, die dauerhafte Beschäftigung gefunden hat. Im Allgemeinen jedoch ist in Frank reich die Beschäftigungssituation für junge Männer besser als für junge Frauen. Wie diese Zahlen zeigen, leiden junge algerische Männer noch immer unter der von Frankreich praktizierten besonderen Diskriminierung und rassistischem Hass gegen Menschen aus seiner ehemaligen Kolonie, die ihm eine bittere militärische Niederlage zugefügt hat.

Im Allgemeinen ist es für junge Frauen nicht mehr so leicht, sich von ihren Familien zu trennen, wie in den vorangegangenen zwei Jahrzehnten. Mit der eigenen Familie zu brechen heißt, man muss Arbeit finden, aber Anstellungen, die zu finanzieller Unabhängigkeit führen, sind heutzutage selten. Diese materiellen Bedingungen sind für viele junge muslimische Frauen die Grundlage für eine Rückkehr zur Religion. Aber das ist ausgesprochen widersprüchlich. Viele erheben Anspruch auf eine islamische Identität und verurteilen gleichzeitig im Namen des Islam die Traditionen, die sie in den Schoß der Familie zurückstoßen. Es gibt einige, die den Schleier aus Trotz gegen die französische Gesellschaft tragen, die arabische Menschen mit Geringschätzung behandelt. Außerdem ist es oft der Fall, dass junge Frauen, die den Schleier anlegen und dieser Vorstellung von Sittsamkeit nachkommen, das Recht erhalten, das Haus zu verlassen und mit Freunden auszugehen, was ihnen zuvor nicht erlaubt war. Aber diese Seifenblase der „Freiheit“, grotesk verzerrt und mit dem Schleier erkauft, hält nicht lange. Jede junge Frau mit islamischem Kopftuch weiß, dass ihre Zukunft entsprechend den Familientraditionen und der Religion innerhalb des Hauses liegt. Und gleichzeitig bietet die westliche Gesellschaft auch keine Zukunft. In einem Vortrag auf einer Frauenkonferenz an der Sorbonne im Januar 2002 bemerkte Fadela Amara: „In den 80er-Jahren hatten wir älteren Schwes tern begonnen, unsere Freiheit zu erlangen und die ersten Schritte in Richtung Gleichheit zu gehen, aber dann brach all das allmählich zusammen in den 90er-Jahren mit Massenarbeitslosigkeit, Fundamentalismus und dem Rückzug in die Gemeinde.“

Bücher, die diese jungen Frauen selber geschrieben haben, schildern ein „schizophrenes“ Leben. Manche verlassen das Haus unter einem Schleier und ziehen sich bei McDonalds auf der Toilette einen Minirock an; den Rest des Tages verbringen sie damit, der Überwachung durch ältere Brüder auszuweichen, die die Rolle von Familienbullen übernehmen, und das zuweilen mit erschreckender Brutalität. Oft werden sie buchstäblich zugrunde gerichtet durch das Gefühl, zerrissen zu werden zwischen einerseits der französischen Gesellschaft, die von ihnen verlangt, ihre gesamte arabische Identität aufzugeben, und andererseits der Familie, die Sittsamkeit fordert. Von diesen jungen Frauen begehen mehr Selbstmord als andere junge Frauen ihrer Altersgruppe. In dem Lied Islamische Frauen beschreiben die bekannten Rapperinnen aus Straßburg die Situation eines muslimischen Mädchens: Wenn sie den Schleier trägt, sind es die Franzosen, die ihr Vorwürfe machen, aber wenn sie ihn ablegt, wendet sich ihr eigenes Viertel gegen sie.

Immigrantenfeindliche Gesetze und doppelte Gefährdung von Frauen

Für junge Frauen hat die zunehmend restriktive Einwanderungspolitik einen wahren „Heiratsmarkt“ geschaffen, der junge Frauen tötet. Um zu verstehen, wie diese im mig ran tenfeindlichen Gesetze die Frauenunterdrückung verschärfen, muss man mehrere Jahrzehnte zurückgehen. Schon 1974, bei der weltweiten Ölkrise und der Wirtschaftsrezession, entschieden die französischen Kapitalisten, dass sie keine weiteren nordafrikanischen Arbeitskräfte mehr brauchten (diese hatten während und nach dem Algerienkrieg begonnen, eingewanderte Arbeitskräfte aus Ost- und Süd europa zu ersetzen). 1974 schlug der französische Staat Menschen, die aus den ehemaligen vom französischen Imperialismus ausgebeuteten Kolonien kamen, die Tür vor der Nase zu. Männern, die sich für die Profite der französischen Kapitalisten kaputt geschunden hatten, wurden 10000 Francs und eine Einfachfahrkarte nach Nordafrika angeboten. Die französische Regierung hatte wohl zu diesem Zeitpunkt vor, die Einwanderung völlig zu unterbinden, aber die Europäische Union übte bezüglich des Rechts auf Familienzusammenführung Druck auf sie aus. Doch es war ziemlich schwer für einen Arbeiter, der oft arbeitslos und in einem Wohnheim für allein stehende Männer untergebracht war, dem französischen Staat zu beweisen, dass er für die Bedürfnisse seiner Familie aufkommen konnte und so die gesetzlichen Voraussetzungen für eine Familienzusammenführung erfüllte.

Diese restriktiven Gesetze und die schrecklichen Bedingungen der Armut zwangen viele Familien, und besonders die Frauen, in den Untergrund und auf den Schwarzmarkt, wo man mit viel Glück Arbeit finden kann — Arbeit, die so schmutzig und schlecht bezahlt ist, dass kein Franzose sie haben will. Der Mehrheit der Frauen, die durch Familienzusammenführung nach Frankreich immigrierten, wurde vom Gesetz her das Recht auf Arbeit verweigert. Auf diese Weise verstärkte die französische Bourgeoisie mit ihrer immigrantenfeindlichen Gesetzgebung all die alten repressiven Traditionen und die Abschottung nordafrikanischer Frauen im Heim der Familie, abgeschnitten von der Gesellschaft.

Später in den 80er- und 90er-Jahren schränkten die Gesetze von Pasqua und Debré und Chevènement die Aufenthaltsrechte noch weiter ein und erleichterten auch die Abschiebungen. Es sollte festgehalten werden, dass die so genannten „linken“ Regierungen die immigrantenfeindlichen Gesetze, die die Rechte eingeführt hatte, nie wieder aufgehoben haben. Im Gegenteil, sie verschärften das Arsenal an rechtlicher und polizeilicher Repression gegen Im migran ten. Es war Mitterrand, der, um Abschiebungen zu rechtfertigen, erklärte, Frankreich habe seine „Toleranzschwelle“ für Immigranten erreicht. Es war Jospin mit seiner „Sicherheits“-Kampagne, der die Polizeirepression gegen Jugendliche in den Vorstädten verschärfte und somit Le Pens Nationaler Front den Weg bereitete.

Das Pasqua-Méhaignerie-Gesetz von 1993 brachte eine wichtige Änderung im Staatsbürgerschaftsrecht. Das Staatsbürgerschaftsrecht, das den in Frankreich geborenen Kindern ausländischer Eltern automatisch die französische Staatsbürgerschaft gab, wurde abgeschafft. Jetzt mussten Jugendliche aus Immigrantenfamilien die französische Staatsbürgerschaft im Alter von 16 bis 21 Jahren beantragen. (Das Gesetz wurde vor kurzem erneut abgeändert, und jetzt können in Frankreich geborene Kinder ausländischer Eltern im Alter von 18 Jahren Franzosen werden, aber erst nach einem bürokratischen Verfahren, das mit administrativen Hürden gespickt ist.) Durch diese Gesetze wurde eine Situation geschaffen, in der es jetzt eine Generation junger Menschen gibt, die in Frankreich geboren, aufgewachsen und zur Schule gegangen sind, die das Land ihrer Eltern oder Großeltern kaum kennen und oft nicht einmal die Sprache ihrer Eltern sprechen und die doch als „Nicht-Franzosen“ stigmatisiert werden.

Dieses Gesetz hatte eine tief gehende Auswirkung. Zurückgestoßen von zwei Gesellschaften — der des Landes ihrer Geburt und der des Herkunftslands ihrer Familie — und ohne die Möglichkeit, sich in eine Gesellschaft zu integ rieren, die weder Arbeit noch eine Zukunft zu bieten hat, suchten viele Jugendliche eine Identität in der Religion. Die Diskriminierung, der sie ausgesetzt sind, existiert sogar sprachlich. Jugendliche, die in Frankreich geboren sind, werden immer noch „Immigranten“ genannt oder als „aus Immigrantenfamilien stammend“ bezeichnet, oder sie werden als „zweite Generation“ oder „dritte Generation“ abgestempelt. Als Amerikanerin gehe ich davon aus, dass fast alle „aus Immigrantenfamilien abstammen“. Und wer zählt schon, wie viele Generationen zwischen einem Cromagnonmenschen [Menschentypus der jüngeren Altsteinzeit] und Le Pen liegen? (Womit ich nicht die Cromagnonmenschen beleidigen will, aber es ist klar, dass Le Pen so etwas wie einen Rückfall darstellt.) Diese sprachliche Diskriminierung spiegelt die wirkliche Diskriminierung einer Bevölkerung wider, die Frankreich nicht integrieren will, einer Bevölkerung, die jederzeit abgeschoben werden kann, so wie die Juden, trotz ihrer französischen Staatsbürgerschaft. Unter dem Vichy-Regime wurde 15154 Franzosen, mehrheitlich Juden, die Staatsbürgerschaft entzogen, um leichter ihre Deportation in die Todeslager durchführen zu können. In Hinblick auf die jüngsten Änderungen im Staatsbürgerschaftsgesetz sollte man sich an diese geschichtlichen Ereignisse erinnern.

Frauenunterdrückung und die Familie

Wie töten immigrantenfeindliche Gesetze junge Frauen aus Immigrantenfamilien, die in Frankreich geboren sind? Hier sind die Schlussfolgerungen aus der Forschung von Michèle Tribalat in ihrem Buch Faire France [Frankreich schaffen] (1995):

„Der Anwerbestopp von Arbeitskräften hat die Heirat mit einem jungen Mädchen, das in Frankreich lebt, insbesondere, wenn es die französische Staatsbürgerschaft besitzt, zu einem sehr attraktiven Geschäft gemacht. So finden sich Mädchen, die in Frankreich aufgewachsen sind, allzu oft als Gefangene eines ,ethnischen Heiratsmarktes‘ wieder, in dem die Familie selber oft entweder ein finanzielles oder ein moralisches Interesse daran hat, ihre Tochter an jemanden zu verheiraten, der einwandern will.“

Mit anderen Worten, das Leben für diese Mädchen ist Sklaverei, sie werden behandelt wie Eigentum an mensc h lichem Fleisch, das ge- und verkauft, verstümmelt und manch mal zur Rettung der „Familienehre“ getötet werden kann. Die „Ehrentötung“ von Fadime Sahindal, einer jungen kurdischen Studentin in Schweden, hat Proteste hervorgerufen und es wurde in der Presse ausführlich darüber berichtet. Fadime Sahindal wurde im Januar 2002 von ihrem Vater er schos sen für das „Verbrechen“, sich einer arrangierten Heirat widersetzt und sich ihren Freund selbst ausgesucht zu haben.

Oft nutzen Familien die Schulferien aus, um ihre Töchter in ihre Ursprungsländer zurückzuschicken: nach Afrika zur Beschneidung und besonders in die Türkei und nach Nordafrika zur Zwangsheirat. Was Zwangsheiraten angeht, so legt der Koran fest, dass muslimische Frauen nur muslimische Männer heiraten dürfen, während ein Mann heiraten kann, wen immer er will. Junge Frauen, die gegen dieses Schicksal protestieren, werden oft entführt, brutal geschlagen und manchmal getötet. An Büchern zu diesem Thema fehlt es nicht. In einer Autobiografie einer jungen Frau algerischer Abstammung, die entführt und nach Algerien zurückgeschickt worden war — wo sie im Haus der Familie hinter Schloss und Riegel gesperrt wurde, weil sie es gewagt hatte, hier mit einem französischen Mann auszugehen —, schließt die Frau aus ihrer unmittelbaren persönlichen Erfahrung auf den größeren gesellschaftlichen Zusammenhang:

„Jungfräulichkeit ist so wichtig in unserer Welt! Vor allem um die Ehre der Eltern zu wahren. Die gesamte Familienehre ruht auf der Jungfräulichkeit der jungen Tochter für die Heirat. Man fühlt sich, als sei man seines eigenen Körpers in seinen intimsten Aspekten beraubt... Man ist entweder Jungfrau oder sittlich verdorben; es gibt keine andere Alternative.“

Diese junge Frau dachte unaufhörlich an Flucht, erkannte aber, dass das Problem viel weitreichender war als ihre eigenen Familienaufpasser und Brüder, die die Rolle von Bullen spielten. Sie erläutert die Situation in Algerien:

„Die Polizei ist der Wächter der öffentlichen Moral. Auch alle anderen Männer überwachen jede Handlung und Geste der Frauen auf der Straße. Es ist, als seien all diese Männer deine Väter. Sehr unterdrückerische Väter, die kollektiv die Sittlichkeit aller Töchter des Landes garantieren.“

— Aïcha Benaïssa, Née en France, Histoire d’une jeune beur [In Frankreich geboren: Die Geschichte einer jungen Beur] (1990)

Anderswo in Afrika wird die Jungfräulichkeit junger Mädchen und der Preis, den sie auf dem Heiratsmarkt erzielen können, durch genitale Verstümmelung sichergestellt. Dies hat nichts mit „kulturellen Unterschieden“ zu tun: Genitale Verstümmelung von Frauen ist eine barbarische Gewalttätigkeit. Bei einer Exzision werden Teile der Klitoris und der inneren Schamlippen herausgeschnitten. Infibulation ist eine noch drastischere Prozedur, bei der die äußeren Schamlippen entfernt werden und das verbleibende Fleisch fest aneinander zusammengenäht wird. Die Vaginalöffnung wird als winziges Loch neu angelegt, das gerade groß genug ist für das Aussickern von Urin und Menstruationsflüssigkeit. Wie man sich vorstellen kann, hat diese Art der Verstümmelung schreckliche Schmerzen, Infektionen, schwierige und manchmal tödliche Schwangerschaften zur Folge, ganz zu schweigen natürlich von der völligen Zerstörung der sexuellen Lust der Frau. Jungen Mädchen, die gegen diese Verstümmelung protestieren, wird oft damit gedroht, dass ihre eigene Mutter in ihr Ursprungsland zurückgeschickt wird, wo sie verstoßen und zu einer öffentlich Geächteten wird. Es gibt eine hohe Selbstmordrate unter Müttern und Töchtern, die dieser Barbarei irgendwie zu entkommen versuchen.

Es sollte hervorgehoben werden, dass Frauen aller sozialen Klassen, sogar Frauen der herrschenden Klasse, durch diese Praktiken unterdrückt werden. Dies zeigt, dass die Hauptquelle der Frauenunterdrückung in der Klassengesellschaft die Institution der Familie ist und dass selbst bürgerliche Frauen als Frauen unterdrückt werden. Aber Frauen der Arbeiterklasse sind doppelt unterdrückt, und Immigrantenfrauen aus der Arbeiterklasse leiden unter dreifacher Unterdrückung.

Diese schrecklichen Praktiken der weiblichen genitalen Verstümmelung, der Zwangsehen und Ehrentötungen zeigen, dass selbst ein einfaches demokratisches Recht wie das, welches in unserem Kampf für „Volle Staatsbürgerrechte für alle Immigranten und ihre Familien!“ verkörpert ist, wahrhaftig eine Frage von Leben und Tod für Frauen und Mädchen ist. Diese Beispiele entlarven auch die Scheinheiligkeit der französischen Bourgeoisie, die sich selbst als den angeblichen Erben der Ideen der Französischen Revolution und der Aufklärung beweihräuchert. Was für eine Lüge! Mit ihrer immigranten- und arbeiterfeindlichen Politik verstärkt und verewigt die französische Bourgeoisie die barbarischsten und blutigsten Praktiken der Geschichte. Wie Marx erkannte, müssen wir das kapitalistische System hinwegfegen, um die großen Ideen der Aufklärung zu verwirklichen.

In dieser Periode bürgerlicher Angriffe gegen Immigranten sollten wir uns der Schlüsselrolle erinnern, die eingewanderte Arbeiter beim Klassenkampf in Frankreich spielten, wie z.B. während der Pariser Kommune 1871. Wie Karl Marx sagte:

„Laut seine internationalen Tendenzen verkündend — denn die Sache des Produzenten ist überall die gleiche und ihr Feind überall der gleiche, welcher Nationalität (in welchem nationalen Gewand) er auch auftreten mag — verkündete Paris als einen Grundsatz die Zulassung von Ausländern in die Kommune, wählte sogar einen ausländischen Arbeiter [Leo Frankel] (ein Mitglied der Internationale) in seine Exekutivkommission, dekretierte [die Zerstörung des] Symbols des französischen Chauvinismus — der Vendôme-Säule!“

— Karl Marx, Erster Entwurf zum Bürgerkrieg in Frankreich“ (1871)

Die Unterdrückung der Frauen in muslimischen Ländern hat ihre Wurzeln nicht in einer irgendwie einzigartig reaktionären Qualität des Islam, wie die Imperialisten heutzutage vortäuschen. Man lese nur eine beliebige Komödie von Molière und man wird sehen, dass auch „la belle France“ eine lange Geschichte von Zwangsheiraten hat. Bis zu dem Zeitpunkt, als die Macht der Kirche über die Zivilgesellschaft zumindest teilweise gebrochen war, beschränkten sich die „Wahlmöglichkeiten“ der Frauen auf die Alternative: entweder Zwangsheirat oder für den Rest des Lebens hinter Klostermauern weggesperrt zu werden. Bis 1965 hatten Frauen in Frankreich per Gesetz nicht einmal das formale Recht zu arbeiten ohne die ausdrückliche schrift liche Zustimmung ihres Ehemanns! Trotz dem unterminierte der Aufstieg des kapitalistischen Eigentums in Frankreich, im Gegensatz zu den afrikanischen und nordafrikanischen Ländern, tief greifend die rückständigen feudalen gesellschaftlichen Verhältnisse. Diese wurden dann weitgehend hinweggefegt in der großen bürgerlich-demokratischen Französischen Revo lution, die der Entwicklung einer fortschrittlichen Industriegesellschaft den Weg ebnete. Diese Revolution beseitigte die Monarchie und Aristokratie, beschränkte die Macht der Kirche und erhöhte in bedeutendem Maße die Stellung der Frau, wenngleich viele der rechtlichen Er rungenschaften hinterher, als die Bourgeoisie ihre Herrschaft festigte, wieder zurückgenommen wurden. Der Kapitalismus erschien verspätet in der muslimischen Welt, und zwar mit dem europäischen Kolonialismus, der sich mit den örtlichen Feudalmächten verbündete. In den Kolonialländern und auch in den imperia lis tischen Metropolen, wo es eine Konzentration von Immigranten gibt, hat der Kapitalismus barbarische frauenfeindliche Traditionen verstärkt.

Das marxistische Verständnis von der materiellen Grundlage für die Frauenunterdrückung wird in Friedrich Engels’ Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats (1884) dargelegt. Engels’ Buch zeigt, wie die Entstehung der Frauenunterdrückung auf der ersten Spaltung der Gesellschaft in Klassen beruht. Unter dem „Urkommunismus“ der alten Steinzeit rührte die Arbeitsteilung zwischen Männern und Frauen von der Biologie her (Frauen hatten die Nachkommen zu gebären und zu stillen) und bedeutete keine untergeordnete gesellschaftliche Stellung für Frauen. Technologischer Fortschritt, insbesondere die Entwicklung des Ackerbaus, schuf erstmals einen gesellschaftlichen Über schuss, was zur Teilung der Gesellschaft in Klassen führte. Mit der Entstehung der Klassen wurde die Institution der Familie unvermeidlich. Engels führt aus:

„In dem Verhältnis also, wie die Reichtümer sich mehrten, gaben sie einerseits dem Mann eine wichtigere Stellung in der Familie als der Frau und erzeugten andrerseits den Antrieb, diese verstärkte Stellung zu benutzen, um die hergebrachte Erbfolge zugunsten der Kinder umzustoßen. Dies ging aber nicht, solange die Abstammung nach Mutterrecht galt...

Der Umsturz des Mutterrechts war die weltgeschichtliche Niederlage des weiblichen Geschlechts. Der Mann ergriff das Steuer auch im Hause, die Frau wurde entwürdigt, geknechtet, Sklavin seiner Lust und bloßes Werkzeug der Kinderzeugung.“

Die Ursprünge der Familie sind also voll und ganz mit der Vererbung von Privateigentum verbunden, und genau daher erhält die Frage der Jungfräulichkeit eines Mädchens und die Unterjochung der Frau ihre Bedeutung. Engels sagt:

„Sie [die Familie] ist gegründet auf die Herrschaft des Mannes, mit dem ausdrücklichen Zweck der Erzeugung von Kindern mit unbestrittener Vaterschaft, und diese Vaterschaft wird erfordert, weil diese Kinder dereinst als Leibeserben in das väterliche Vermögen eintreten sollen... Es ist jetzt in der Regel nur noch der Mann, der es [das Eheband] lösen und seine Frau verstoßen kann. Das Recht der ehelichen Untreue bleibt ihm auch jetzt wenigstens noch durch die Sitte gewährleistet (der Code Napoléon schreibt es dem Mann ausdrücklich zu, solange er nicht die Beischläferin ins eheliche Haus bringt) und wird mit steigender gesellschaftlicher Entwicklung immer mehr ausgeübt; erinnert sich die Frau der alten geschlechtlichen Praxis und will sie erneuern, so wird sie strenger bestraft als je vorher.“

Ich möchte hervorheben, welche Bedeutung Marx und Engels der Frauenfrage beimaßen. Engels’ großartiges Buch wurde geschrieben als ein Vermächtnis von Karl Marx, der sich mit der Frage der Familie beschäftigt hatte. Entgegen all den erstickenden Wertvorstellungen der bürgerlichen Gesellschaft studierten Marx und Engels die Gesamtheit mensch licher Erfahrung, einschließlich der Geschichte der Geschlechtsbeziehungen. Mit unserer Zeitschrift Women and Revolution, die jetzt in Form von W&R-Seiten [Frauen-und-Revolution-Seiten] in Spartacist, der Zeitschrift der Internationalen Kommunistischen Liga, herausgegeben wird, versuchen wir ihrem Beispiel zu folgen: Man muss die Gesamtheit menschlicher Erfahrung ansprechen, wenn man die Welt wirklich verändern und jede Art von Unterdrückung beseitigen und den Weg zur allumfassenden Freiheit des Menschen eröffnen will.

Marx und Engels hatten auch einen Sinn für Humor und Dreistigkeit, den wir bewundern. Zum Beispiel schrieb Engels in Bezug auf die Frage des Geschlechtsverkehrs mit häufig wechselnden Partnern und der Scham und Scheinheiligkeit der Bourgeoisie:

„Und wenn strenge Monogamie der Gipfel aller Tugend ist, so gebührt die Palme dem Bandwurm, der in jedem seiner 50-200 Proglottiden oder Leibesabschnitte einen vollständigen weiblichen und männlichen Geschlechtsapparat besitzt und seine ganze Lebenszeit damit zubringt, in jedem dieser Abschnitte sich mit sich selbst zu begatten.“

Besser, ein Bandwurm zu sein, als eine junge Frau, die sich in einer Zwangsehe wieder findet!

Für Frauenbefreiung durch sozialistische Revolution!

Als Antwort auf das dringende Bedürfnis, jungen Frauen zu helfen, wurden in Frankreich mehrere Organisationen geschaffen. Wir sprachen mit einer türkischen Gruppe, die täglich drei bis vier Anrufe von jungen Frauen erhält, die in einer Zwangsehe gelandet oder davon bedroht sind. Ich sprach mit einer Gruppe namens GAMS (Frauengruppe für die Abschaffung sexueller Verstümmelung), die gegründet wurde, um gegen die genitale Verstümmelung von Frauen zu kämpfen, die aber jetzt auch eine Menge dafür tut, junge Frauen vor Zwangsehen zu retten. Diese Organisationen leis ten wichtige und manchmal heroische Arbeit, aber sie werden durch Nationalismus und Sektoralismus geschwächt. Jede Gruppe ist nach Nationalität und Geschlecht organisiert: GAMS für afrikanische Frauen, Elélé für türkische Frauen, die Nanas Beurs für nordafrikanische Frauen usw. Diese nationale Isolierung wird hervorgerufen durch die Gleichgültigkeit der größeren linken Parteien und der Gewerkschaften gegenüber diesen Fragen. Zwar macht besonders die Kommunistische Partei zur Wahrung ihres Gesichts bis zu einem gewissen Grad Sozialarbeit in den von ihr regierten Gemeinden und unterstützt manchmal verzweifelte Menschen, doch genauso wie die Sozialisten steht sie auf der falschen Seite in dem Kampf, die mächtige Arbeiterbewegung in ihrer Gesamtheit zur Verteidigung der Immigranten und zur Verteidigung der Frauen zu mobilisieren. Die politische Abdankung einer „Führung“, die nicht bereit ist, für die besonders Unterdrückten zu kämpfen, hat schwache Gewerkschaften zur Folge, die die Interessen keines ihrer Mitglieder verteidigen, und ein politisches Klima, das von rassistischer Argumentation beherrscht ist, sowohl seitens der Rechten als auch der „Linken“.

Die Isolierung der Unterdrückten und die Hoffnungslosigkeit, die heute in dieser Gesellschaft existieren, sind die bitteren Früchte des Verrats der Linken. In den 80er-Jahren hatten die Jugendlichen, die die „Beur-Bewegung“ bildeten, wie man es damals nannte (das Wort „beur“ ist ein Slang ausdruck für „Araber“), und ihre Eltern gewaltige Hoffnungen auf die Mitterrand-Regierung gesetzt. Die Jugendlichen der Beur-Bewegung marschierten zu Fuß quer durch das Land, von Lyon bis vor den Präsidentenpalast in Paris (L’Elysée), um zu verkünden „Wir sind hier!“ und Gleichheit einzufordern. Es gab damals nicht eine einzige religiöse Losung in der Bewegung. Aber die Mitterrand-Regierung, die eine kapitalistische Regierung war — an die Macht gekommen mit der Unterstützung aller linken Gruppen außer natürlich unserer Partei, der LTF —, brachte den Jugendlichen aus Immigrantenfamilien keine Gleichheit. Im Gegenteil, die Mitterrand-Regierung verfolgte eine Politik der Abschiebungen, schränkte das Recht auf Familienzusammenführung ein und begann die Polizeirepression in den Vorstädten zu verschärfen als Speerspitze eines Angriffs auf die gesamte Arbeiterklasse.

Die Folgen des Anstiegs von rassistischer Ausgrenzung und des Verrats durch die Linken beschreibt Ahmed Boubeker in Libération-Lyon genau am Geburtsort der Bewegung für gleiche Rechte für Jugendliche aus Immigrantenfamilien:

„Diejenigen, die die Hauptstadt der Beurs zwischen 1981 und 1983 kannten, würden den Ort nicht wieder erkennen... In der Gaston-Monmousseau-Straße Nr. 10, genau dort, wo die Gruppe ,S.O.S. Avenir Minguettes‘, die den ersten Beur-Marsch initiierte, ihren Sitz hatte, findet man heute einen Gebetsraum... Ehemalige Militante der Beur-Bewegung setzen große Hoffnungen ... auf die Einheit der Immigrantenjugend durch den Glauben: ,Das nächste Kapitel der Geschichte junger Araber in Frankreich wird muslimisch sein oder überhaupt nicht sein! Kommt mir nie mehr mit den Beurs, wozu war diese Geschichte gut, außer um ein paar Katholiken zu Tränen zu rühren und die Juden ein paar Anstecker verkaufen zu lassen? Die Wahrheit ist, dass ein Leben mit westlichem Lebensstil Unglück bringt, während der Islam das Erbe ist, das uns unbesiegbar macht‘.“

— zitiert in Gilles Kepel, Les banlieues de l’Islam [Die islamischen Vorstädte] (1987)

Die französische Bourgeoisie spielt das klassische Spiel „Teile und Herrsche“, indem sie antiarabischen Rassismus benutzt. Besonders seit dem 11. September 2001 werden wir von den Medien mit Geschichten über „islamische Terrornetzwerke“ in Frankreich bombardiert. Zuallererst ist es notwendig, zu erkennen, dass das wirkliche „Terrornetzwerk“ aus der NATO, den Vereinten Nationen und den amerikanischen und französischen imperialistischen Regierungen besteht. Wer folterte Zivilisten in Algerien? Wer zerstörte und bombardierte das ehemalige Jugoslawien? Wer unterdrückt mit einer Polizeiarmee die Viertel und Vorstädte der Arbeiterklasse? Wer entlässt Arbeiter und zerstört ihre Existenz? Es ist die französische Bourgeoisie, nicht eine Hand voll islamischer Fundamentalisten!

Außerdem ist die französische Bourgeoisie ganz schön dreist, denn sie war es, die bewusst den Islam nach Frankreich eingeführt hat als ein Mittel, eingewanderte Arbeiter unter Kontrolle zu halten und eine arabisch-französische Einigkeit innerhalb der Arbeiterklasse zu blockieren. Die französische Bourgeoisie benutzte den Islam als Bollwerk gegen den Kommunismus, sowohl international als auch zu Hause in den Fabriken und Immigrantenvierteln in Frankreich. In den 80er-Jahren spielten eingewanderte Arbeiter bei machtvollen Streiks eine Vorreiterolle, insbesondere in der Autoindustrie. Die Bosse mit ihren gelben Betriebs„gewerkschaften“ wie der CSL (Bund freier Gewerkschaften) machten sich bewusst die Religion zunutze, um Militante in den Fabriken auszugrenzen und zu überwachen. Die Forderung nach Gebetsräumen war nie eine Forderung der Gewerkschaftsbewegung in Nordafrika gewesen. Aber hier in Frankreich machten die Bosse — über die CSL — Reklame für diese Forderung. Gilles Kepel erklärt in Les banlieues de l’Islam:

„Die Errichtung einer islamischen Struktur in den Fabriken hatte mehrere Vorzüge für die Geschäftsleitung, deren kurzfris tige Perspektive es war, sozialen Frieden und Produktivität aufrechtzuerhalten, bis diese Arbeiter durch Roboter ersetzt werden konnten. Es stärkte die Bindung muslimischer Arbeiter an den Unternehmensgeist; sie erkannten an, dass das Unternehmen ihnen gestattete, ihre Religion auszuüben. Dies schuf eine neue Art Mittelsmann zwischen Geschäftsleitung und Arbeitern, wodurch das Monopol der Gewerkschaftsvertreter unterminiert wurde... Die Forderungen, Gebetsräume aufzumachen, konnten daher erfüllt werden, weil sie als Mittel angesehen wurden, den ,Unternehmensgeist‘, den sozialen Konsens zwischen Arbeitern und Geschäftsleitung, zu fördern.“

Während die französischen Bosse auf der einen Seite den Islam in den Fabriken förderten, brandmarkten die Medien der Bosse auf der anderen Seite nordafrikanische Streikende in den großen Streiks bei Citroën, Talbot und Renault Anfang der 80er-Jahre als „Ajatollahs in den Fabriken“. Die Politik der Linken und der Gewerkschaftsführungen war genauso krass. Anstatt die Einheit der Arbeiterklasse im Kampf gegen die Bosse und die Mitterrand-Regierung zu organisieren, kapitulierte die verrottete Linke vor der Regierung, die sie an die Macht gebracht hatte, und ließ die eingewanderten Arbeiter isoliert. Ja, der „sozialistische“ Minis terpräsident Pierre Mauroy denunzierte sogar einen Streik bei Renault als das Werk von „Mudschaheddin“!

Diese Gleichgültigkeit gegenüber der Rassenunterdrückung stammt direkt von einer Perspektive der Klassenzusammenarbeit. Die französische Linke und die Gewerkschaftsführung suchen Verbündete in der französischen Bourgeoisie (dieses Jahr setzten sie sogar auf Chirac und wählten ihn!), anstatt die unterdrücktesten Arbeiter hier in Frankreich als proletarischen Schlüsselsektor und beste Verbündete der französischen Arbeiter zu organisieren. Eine Genossin erzählte mir von einem Streik für Arbeiter aus den französischen Kolonien und überseeischen Gebieten, der vor kurzem bei der Post stattfand. Da sie die Interessen ihrer Arbeitskollegen verteidigen wollte, trat sie natürlich auch in den Streik, aber am nächsten Morgen sagte ihr ihre Gewerkschaftsführung, dass sie nicht das Recht habe zu streiken und von der Gewerkschaft nicht geschützt werde, denn dieser Streik sei nur für die Arbeiter aus den Kolonien und den überseeischen Gebieten! Und so tragen die Gewerkschaftsführer die rassistische Teile-und-Herrsche-Politik der Bosse direkt in die Arbeiterbewegung.

In den Branchen, wo eingewanderte Arbeiter als Reservearmee von Arbeitskräften ausgebeutet und missbraucht werden, wie im Baugewerbe, ist eine Kampagne notwendig, diese eingewanderten Arbeiter gewerkschaftlich zu organisieren und sie in die Klassenkämpfe zur Verteidigung aller Arbeiter, die gegen denselben kapitalistischen Staat und dieselben Bosse kämpfen, mit einzubeziehen. Ein Arbeiter ohne Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis (sans-papiers) wäre viel eher in der Lage, für seine eigenen Interessen kämpfen zu können und sich zu weigern, als Streikbrecher miss braucht zu werden, wenn er einen CGT-Mitgliedsausweis hätte, hinter dem die Macht von Zehntausenden in der französischen Arbeiterbewegung steht. Wirkliche Solidarität mit den sans-papiers erschöpft sich nicht in alljährlichen Demonstrationen mit Filmstars, sondern besteht in der wirklichen Gleichberechtigung und Solidarität, die aus der Einheit im Klassenkampf entspringt.

Die verräterische Führung der französischen Arbeiterbewegung kapitulierte vor der islamischen Reaktion, die sich insbesondere gegen die militantesten nordafrikanischen Arbeiter richtete — ganz zu schweigen davon, was es für eine Arbeiterin bedeutet, Mullahs an ihrem Arbeitsplatz zu haben! In den 80er-Jahren brachten die CGT und die Maois ten Flugblätter heraus, worin sie sich gegenseitig vorwarfen, schlechte Muslime zu sein und während des Ramadan zu essen! Die CSL wurde nicht dafür angeprangert, dass sie eine Unternehmergewerkschaft ist und außerhalb der Arbeiterbewegung steht, sondern weil sie „von den Zionisten beherrscht“ werde! Zur selben Zeit, als die CGT und die Kommunistische Partei Frankreichs vor Islam und Antisemitismus kapitulierten, die von den Bossen in die französischen Fabriken hineingebracht worden waren, gab ihre Schwesterpartei im Iran, die Tudeh-Partei, der Khomeini-Regierung ihre volle Unterstützung. Dort begrüßten die KPF und Tudeh die Unterdrückung der linksgerichteten Fedajin — zwei Jahre bevor die Tudeh-Partei selbst von der islamischen Reaktion vernichtet wurde!

Das Problem ist, dass die Organisationen, die die französische Arbeiterbewegung führen, das Ziel haben, den Kapitalismus zu verwalten, statt ihn zu zerstören. Aus diesem Grunde kapitulieren sie fortwährend vor dem Rassismus und rechtfertigen ihn, denn Rassenunterdrückung ist grundlegend für die Herrschaft des französischen Kapitalismus. Diejenigen Streiks, deren Teilnehmer in der Mehrzahl eingewanderte Arbeiter waren, wurden isoliert und konnten so von den Kapitalisten leichter gebrochen werden, wie der Flins-Autostreik im März 1995. Auf der anderen Seite wurden Streiks im öffentlichen Dienst (wie die gewaltige Streikwelle vom Dezember 1995) nicht auf die Privatindus trie mit ihrer machtvollen Schicht eingewanderter Arbeiter ausgeweitet.

Trotz Arbeitslosigkeit und Entlassungen nehmen eingewanderte Arbeiter und ihre Kinder noch immer einen zentralen Platz in der französischen Produktion ein. Sie sind auch ein lebendes Verbindungsglied zu Arbeitern in Afrika und Asien. Diese eingewanderten Arbeiter sind alles andere als nur „unterdrückte Opfer“, sie besitzen eine soziale Macht, die für die Durchführung einer Revolution entscheidend ist. Notwendig ist eine revolutionäre Führung, ein Volkstribun, der gegen den täglichen rassistischen Terror in den Vorstädten kämpft, der für Arbeitsplätze für alle kämpft, insbesondere für die Jugendlichen aus Immigrantenfamilien, der für Frauenrechte kämpft, und zwar auch gegen Zwangsehen, gegen Exzision und für das Recht auf kostenlose Abtreibung auf Wunsch. Wir haben uns dem Aufbau einer revolutionären Partei verschrieben und unser Vorbild ist die Erfahrung der bolschewistischen Partei und der Russischen Revolution vom Oktober 1917.

Frauen und die Russische Revolution

Was ist der Ausweg aus dieser Situation? Um auf Engels’ Ursprung der Familie zurückzukommen:

„Hier zeigt sich schon, daß die Befreiung der Frau, ihre Gleichstellung mit dem Manne, eine Unmöglichkeit ist und bleibt, solange die Frau von der gesellschaftlichen produktiven Arbeit ausgeschlossen und auf die häusliche Privatarbeit beschränkt bleibt. Die Befreiung der Frau wird erst möglich, sobald diese auf großem, gesellschaftlichem Maßstab an der Produktion sich beteiligen kann und die häusliche Arbeit sie nur noch in unbedeutendem Maß in Anspruch nimmt. Und dies ist erst möglich geworden durch die moderne große Indus trie, die nicht nur Frauenarbeit auf großer Stufenleiter zuläßt, sondern förmlich nach ihr verlangt, und die auch die private Hausarbeit mehr und mehr in eine öffentliche Industrie aufzulösen strebt.“

Vorausschauend auf die sozialistische Revolution schreibt Engels:

„Mit dem Übergang der Produktionsmittel in Gemeineigentum hört die Einzelfamilie auf, wirtschaftliche Einheit der Gesellschaft zu sein. Die Privathaushaltung verwandelt sich in eine gesellschaftliche Industrie. Die Pflege und Erziehung der Kinder wird öffentliche Angelegenheit; die Gesellschaft sorgt für alle Kinder gleichmäßig, seien sie eheliche oder uneheliche.“

Die Russische Revolution kämpfte dafür, diese Ideen in die Praxis umzusetzen. Frauen erhielten sofort das Wahlrecht (ein Recht, das den amerikanischen Frauen erst 1918 als Antwort auf das sowjetische Beispiel gewährt wurde und das französische Frauen erst 1944 erhielten!). Alle Gesetze gegen Homosexuelle wurden abgeschafft. Die Macht der Kirche, Eheschließungen zu kontrollieren, Neugeborene für ehelich zu erklären usw., wurde beseitigt. Das ganze Konzept der „Unehelichkeit“ wurde abgeschafft. In der Erkenntnis, dass die Familie nicht einfach abgeschafft werden kann, sondern durch kollektive gesellschaftliche Institutionen ersetzt werden muss, ergriffen die Bolschewiki Maßnahmen, um sofort mit dieser Arbeit zu beginnen, soweit dies in der frühen Sowjetunion unter den Bedingungen von Armut, dem Erbe sozialer Rückständigkeit und dem Bürgerkrieg möglich war.

Frauenbefreiung ist nicht etwas, das man einfach durch die Verabschiedung neuer Gesetze erreichen kann. Es war notwendig, die materiellen Lebensbedingungen zu ändern und die Mittel dafür aufzubringen. Lenin war sich darüber sehr bewusst, vor allem bei der Arbeit im sowjetischen Osten, wo die Frauen verschleiert waren und durch muslimische Traditionen unterdrückt wurden. Diese Traditionen hatten selber ihre Wurzeln in den materiellen Bedingungen. In der alten Gesellschaft waren zum Beispiel Wasser- und Landrechte an die Heirat gebunden. Ein Mann, der mehr Frauen besaß, besaß daher auch mehr Land. „Land denen, die es bebauen“ war ein Mittel, um Frauen von Polygamie und Zwangsehe zu befreien, aber das waren keine Änderungen, die per Dekret oder über Nacht vollbracht werden konnten.

Viele bolschewistische Frauen unter der Leitung des Schenotdel (Abteilung für Arbeit unter Arbeiterinnen und Bäuerinnen) zogen selbst den Schleier über, um zu den Frauen in Sowjet-Zentralasien zu gehen und sie zu unterrichten und zu befreien. Es war eine äußerst gefährliche Arbeit und viele der bolschewistischen Organisatorinnen wurden ermordet. Das war der Grund, weshalb der junge Arbeiterstaat die Todesstrafe wiedereinführte, ausdrücklich für „Morde an Frauenrechtlerinnen“, die zu „konterrevolutionären Verbrechen“ erklärt wurden. Die Schaffung einer geplanten, kollektivierten Wirtschaft erlaubte es dem Arbeiterstaat, den Überschuss aus dem entwickelteren Westen im rückständigeren Osten zu investieren und dadurch anzufangen, die Grundlage für die Gleichheit der Völker in der Sowjetunion zu legen. Dies zeigt sich, wenn man sich die Bevölkerungsstatistiken in den Republiken der ehemaligen Sowjetunion an der Grenze zu Afghanistan betrachtet und sie mit denen auf der anderen Seite der Grenze vergleicht. Auf der sowjetischen Seite waren Frauen nicht mehr unter dem Schleier gefangen gehalten, sie waren des Lesens und Schreibens mächtig; auf der afghanischen Seite der Grenze waren sie größtenteils An alphabeten, und die Statistiken über Kindersterblichkeit und Lebenserwartung unterschieden sich auf den beiden Seiten der Grenze in dramatischer Weise voneinander. Mit der kapitalistischen Konterrevolution kehrt natürlich der ganze alte Dreck in die ehemaligen Sowjetrepubliken zurück, wo Frauen die ersten Opfer der wirtschaftlichen Verwüstung und der politischen Reaktion sind, die mit dem kapitalistischen Rollback einhergehen.

Wie Trotzki in einer Rede von 1924 an der Kommunistischen Universität der Werktätigen des Ostens sagte, zu einer Zeit, als die bolschewistische Macht die Aussicht auf Frauenbefreiung nach Zentralasien brachte: „Und es wird keinen besseren Genossen im Osten geben, keinen besseren Kämpfer für die Gedanken der Revolution, für die Gedanken des Kommunismus, als die erwachte arbeitende Frau.“ Wir sagen, es wird keine besseren Kämpfer für den Klassenkampf und die sozialistische Zukunft geben, hier und auf der anderen Seite des Mittelmeers, als die immigrierten Frauen.

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