Die Russische Revolution und der Zusammenbruch des Stalinismus

Der Bankrott der Theorien über eine „Neue Klasse“

Tony Cliff und Max Shachtman: proimperialistische Komplizen der Konterrevolution

Spartacist (deutsche Ausgabe) Nr. 21, Frühjahr 2000. Übersetzt aus Spartacist (englische Ausgabe) Nr. 55, Herbst 1999

Die Russische Revolution vom Oktober 1917 hat das 20. Jahrhundert wesentlich geprägt. Am Ende des Ersten Weltkriegs entfaltete sich auf der ganzen Welt eine Welle von revolutionären Kämpfen des Proletariats, die anschwoll durch den allgemeinen Abscheu gegen das historisch beispiellose interimperialistische Gemetzel. Revolutionäre Arbeiteraufstände erschütterten Russland, Finnland, Italien, Ungarn und Deutschland; in anderen Ländern meuterten die Armeen und massive, kämpferische Streiks legten in einem nie zuvor gesehenen Ausmaß die Industrie still. Dennoch war das alte zaristische Reich der einzige Herrschaftsbereich, wo die Arbeiterklasse die Staatsmacht eroberte und auch erfolgreich behauptete; sie nahm die Enteignung der Kapitalistenklasse in Angriff und begann mit dem Aufbau einer kollektivierten Planwirtschaft. Die Führung durch Lenins bolschewistische Partei erwies sich als das entscheidende Element für diesen Sieg. Die von den Bolschewiki organisierte Schicht der Avantgarde hatte vollständig mit allen Spielarten des Liquidatorentums, des Sozialchauvinismus, Revisionismus und Reformismus politisch gebrochen, die in der Arbeiterbewegung des Zarenreichs verbreitet waren. Das versetzte Lenins revolutionäre marxistische Arbeiterpartei in die Lage, die Hindernisse wegzuräumen, als sich die Gelegenheit dazu bot, und die Arbeiterklasse zur Zerschlagung des bürgerlichen Staates und zur Schaffung eines auf Räten, oder Sowjets, basierenden Staates zu führen.

Als die Zweite Internationale bei Kriegsbeginn auseinander fiel — die meisten ihrer Parteien unterstützten ihre eigenen imperialistischen Regierungen und halfen dabei, das Proletariat ins Schlachthaus zu führen —, erkannte Lenin, dass diese Organisation als revolutionäre Kraft tot war. Die Bolschewiki versuchten, die revolutionären Internationalisten umzugruppieren im Kampf für eine Dritte Internationale, eine Kommunistische Internationale, die schließlich 1919 in Moskau gegründet wurde. In Deutschland und Italien brach die Avantgarde der Klasse jedoch zu spät mit den Reformisten und Sozialpazifisten; in Ungarn und Finnland waren die Kommunisten — noch in ihren Lehrjahren — mit den Sozialdemokraten vereinigt, als sich proletarische Aufstände entfalteten. Viel versprechende revolutionäre Situationen scheiterten aufgrund der Unreife der revolutionären Führung. Die Sozialdemokraten indessen erwiesen sich als unverzichtbare Hilfe für die Imperialisten, um die Arbeiter an die kapitalistische Ordnung zu ketten, indem sie die „demokratische“ Fassade lieferten, hinter der der offene konterrevolutionäre nationalistische Terror mobil machte und sein blutiges Werk vollführte.

Nach der ersten großen revolutionären Welle der Geschichte im Jahre 1848 betonte Karl Marx nachdrücklich, dass keine Revolution in einem Staat Europas lange aushalten könnte, ohne auch England zu erfassen:

„Eine Umwälzung der national-ökonomischen Verhältnisse in jedem Lande des europäischen Kontinents, auf dem gesamten europäischen Kontinente ohne England, ist der Sturm in einem Glase Wasser. Die Verhältnisse der Industrie und des Handels innerhalb jeder Nation sind beherrscht durch ihren Verkehr mit andern Nationen, sind bedingt durch ihr Verhältnis zum Weltmarkt. England aber beherrscht den Weltmarkt, und die Bourgeoisie beherrscht England.“

— „Die revolutionäre Bewegung“, Neue Rheinische Zeitung, 1. Januar 1849, Werke Band 7

Ohne auf die vom Kapitalismus geschaffene weltweite Arbeitsteilung aufzubauen, wäre es unmöglich, den materiellen Überfluss zu schaffen, der für den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft notwendig ist. Wie Marx früher ausgeführt hatte, würde „der Mangel verallgemeinert, also mit der Notdurft auch der Streit um das Notwendige wieder beginnen und die ganze alte Scheiße sich herstellen“ (Deutsche Ideologie [geschrieben 1845/46]). Darüber hinaus würde, solange wirtschaftlich mächtige kapitalistische Nationen fortbestehen, die Reaktion eine Bastion besitzen, von der aus sie zum Gegenangriff mobil machen könnte. Geschrieben fast 80 Jahre vor Stalins Verkündung des Dogmas vom „Aufbau des Sozialismus in einem Land“, sind Marx’ Worte eine schonungslose Anklage dieser Absurdität.

Die Wirren der Russischen Revolution nach der Machteroberung der Bolschewiki enthüllen mehr als deutlich in allen sadistischen Einzelheiten die Bandbreite der Waffen, die der Weltimperialismus gegen einen isolierten revolutionären Arbeiterstaat aufzubieten hat. Von der Invasion durch die Truppen 14 verschiedener kapitalistischer Nationen bis zum Embargo gegen Reisen, Handel und Kapitalinvestitionen und der Bewaffnung einheimischer Kräfte der Konterrevolution taten die imperialistischen Mächte ihr Möglichstes, um das isolierte und wirtschaftlich verwüstete Sowjetrussland zu erdrosseln. Die Weltbourgeoisien weigerten sich, mit einem Staat zu koexistieren, der dem Weltmarkt ein riesiges Gebiet für Kapitalanlage und Ausbeutung entrissen hatte. Dass der Arbeiterstaat in Isolation fünf Jahre lang als Bastion der Weltrevolution durchhielt, war eine großartige historische Leistung; dass der aus dem Oktober hervorgegangene Staat in degenerierter Form fast 70 Jahre lang Bestand hatte, ist Zeugnis für die unglaubliche wirtschaftliche Stärke einer geplanten und kollektivierten Wirtschaft, trotz der Misswirtschaft durch die stalinistische bürokratische Kaste, die Anfang 1924 der Arbeiterklasse die Macht entrissen hatte. Der anhaltende historische Widerhall der bolschewistischen Revolution zeigte sich im Sturz des Kapitalismus und in der Errichtung deformierter Arbeiterstaaten nach stalinistischem Muster in Osteuropa, China, Nordkorea, Vietnam und Kuba.

Ein entscheidender Faktor für die Degenerierung der Russischen Revolution war der Ausgang der revolutionären wirtschaftlichen und politischen Krise, die 1923 Deutschland — die besiegte Macht des Ersten Weltkriegs — erschütterte, als französische Truppen in das Industriegebiet an der Ruhr einmarschierten, um die Zahlung von Kriegsreparationen sicherzustellen. Ende 1918, mitten in der sich entfaltenden Revolution, hatte sich der Kern der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) — der Spartakusbund unter der Führung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht — von Karl Kautskys zentristischer USPD abgespalten. Kautskys Partei benutzte pseudomarxistische Rhetorik, um ihren Sozialpazifismus und ihre opportunistische Praxis zu verschleiern, und gab so den unverhüllt reformistischen Sozialdemokraten (SPD) die unentbehrliche Rückendeckung. Die Revolution von 1918/19 scheiterte durch das Versäumnis der KPD, sich früher von Kautsky zu trennen, aber wie die späteren Ereignisse zeigen sollten, war selbst danach der programmatische und ideologische Bruch der Partei mit Kautskys Zentrismus bei weitem nicht vollständig. Das Problem wurde durch die Ermordung Luxemburgs und Liebknechts Anfang 1919 nur noch verschärft. Es waren nicht die Führer der unerfahrenen Kommunistischen Partei Deutschlands, die auf Kautskys wütende Attacken gegen die Russische Revolution antworteten, sondern Lenin in Die proletarische Revolution und der Renegat Kautsky (1918) und Trotzki in Zwischen Imperialismus und Revolution (1922). Diese Werke wurden geschrieben, während ihre Autoren den Sowjetstaat lenkten, den Bürgerkrieg gegen die Weißen führten und die Dritte Internationale inspirierten und leiteten. Die Unfähigkeit der deutschen Partei, im revolutionären Jahr 1923 einen proletarischen Aufstand auch nur zu versuchen, führte zu weit verbreiteter Demoralisierung in der sowjetischen Arbeiterklasse und bereitete Stalins Sieg Anfang des nächsten Jahres den Weg. Wie Trotzki so machtvoll in seinen Lehren des Oktober (1924) darlegte, bewies die Unfähigkeit der KPD 1923 auf negative Weise, dass das Problem der revolutionären Führung die entscheidende Frage der imperialistischen Epoche ist.

Bei seiner Besessenheit, den ersten Arbeiterstaat der Welt zu zerstören, genoss der Weltimperialismus den Beistand seiner sozialdemokratischen Lakaien und vieler anderer, die links von der Sozialdemokratie standen. Von Karl Kautsky bis zu Anarchisten, die der Diktatur des Proletariats feindlich gegenüberstanden, von Max Shachtman, der sich 1939/40 von der amerikanischen trotzkistischen Bewegung abspaltete, bis zur mittlerweile ausgestorbenen maoistischen Bewegung haben alle möglichen Kräfte über die Jahre hin die verschiedensten Erklärungen vorgebracht, die angeblich zeigen sollten, dass die UdSSR eine Art „kapitalistische“ Gesellschaft oder „neue Klassen“gesellschaft gewesen sei. Der Aufstieg der brutalen, konservativen stalinistischen Bürokratie, der unter klassenbewussten Arbeitern weltweit Abscheu und Verwirrung hervorrief, war ein großes Geschenk an die antisozialistischen Ideologen und ihre „linken“ Nachbeter, die eine Rechtfertigung dafür suchten, im Namen der „Demokratie“ mit dem kapitalistischen Imperialismus gemeinsame Sache zu machen.

Heute ist die bekannteste Variante einer solchen Strömung die von Tony Cliff und der britischen Socialist Workers Party (SWP) geführte internationale Tendenz, zu der in den USA die International Socialist Organization (ISO) gehört (in Deutschland Linksruck). Die Cliff-Anhänger (und ihre zahlreichen Abspaltungen, wie etwa Workers Power) stehen in der direkten Tradition von Max Shachtman: seinem grundlegenden Bruch mit dem Trotzkismus über die programmatische Frage der bedingungslosen militärischen Verteidigung des sowjetischen degenerierten Arbeiterstaats gegen imperialistische Angriffe von außen und gegen Versuche zur kapitalistischen Restauration im Innern. Dies zeigt eindeutig, dass die staatskapitalistische „Theorie“ eine Brücke für angebliche „Sozialisten“ ist, um sich mit ihrer eigenen herrschenden Klasse zu versöhnen.

Mit Theorien einer „Neuen Klasse“ versuchten diese Renegaten vom Trotzkismus wie Shachtman und Cliff, ihren Verrat an den Klasseninteressen des Proletariats und ihre eigene Versöhnung mit dem Kapitalismus dadurch zu rechtfertigen, dass sie den proletarischen Klassencharakter des sowjetischen degenerierten Arbeiterstaats und der nach dem Zweiten Weltkrieg entstandenen osteuropäischen deformierten Arbeiterstaaten leugneten. In Wirklichkeit waren diese „Theorien“ nichts weiter als Versuche — in pseudomarxistische Terminologie gekleidet —, ihr wirkliches Programm der Kapitulation vor der antikommunistischen bürgerlichen öffentlichen Meinung und der Zurückweisung einer proletarischen revolutionären Perspektive zu verschleiern.

So wurde Shachtmans Preisgabe der bedingungslosen Verteidigung der UdSSR dadurch herbeigeführt, dass er vor der volksfrontfreundlichen kleinbürgerlichen öffentlichen Meinung nach dem deutsch-sowjetischen Pakt von 1939 kapitulierte. Tony Cliff brach 1950 mit der trotzkistischen Vierten Internationale über die gleiche Frage der militärischen Verteidigung der Arbeiterstaaten, diesmal herbeigeführt durch die antikommunistische Kalte-Kriegs-Hysterie, die den Ausbruch des Koreakriegs begleitete. Cliff sagte sich los von der trotzkistischen Position der bedingungslosen militärischen Verteidigung des chinesischen und des nordkoreanischen deformierten Arbeiterstaats gegen den imperialistischen Angriff, der in Form einer multinationalen „Polizeiaktion“ unter der Schirmherrschaft der Vereinten Nationen erfolgt war. Das war eine feige Kapitulation vor der britischen Bourgeoisie und ihren sozialdemokratischen Lakaien: Es war eine Labour-Regierung, die die britischen Truppen nach Korea entsandte.

Zwar unterscheidet sich Cliffs „Theorie“ des Staatskapitalismus in ihrer inneren Logik von der ein Jahrzehnt vorher entstandenen Theorie des „bürokratischen Kollektivismus“ von Max Shachtman; ihnen gemeinsam ist aber, dass beide — auch wenn sie sich auf unterschiedlichem nationalen politischen Terrain entwickelten — dazu dienen, das trotzkistische Programm der bedingungslosen Verteidigung der degenerierten und deformierten Arbeiterstaaten gegen imperialistische Angriffe über Bord zu werfen. Zur Zeit von Roosevelts „New Deal“ in den USA am Vorabend des Zweiten Weltkriegs hatte die Orwellsche Sichtweise von den „Schrecken des Totalitarismus“ — verkörpert durch Hitler und Stalin — das kleinbürgerliche Milieu erfasst; Shachtman, der für dieses Milieu empfänglich war, spiegelte diese Sichtweise wider. Cliff seinerseits passte sich bei Ausbruch des Koreakriegs an die verrottete britische Labour Party an, die von Lenin als „bürgerliche Arbeiterpartei“ bezeichnet worden war. So verkörperte jeder zu seiner Zeit eine Anpassung an den Antisowjetismus der eigenen Bourgeoisie.

Seit die Shachtman-Anhänger selber zu Kalten Kriegern wurden, angesiedelt auf dem äußersten rechten Flügel der amerikanischen Sozialdemokratie, hat man wenig von Vertretern der „Theorie“ des „bürokratischen Kollektivismus“ gehört. Aber der in Britannien neu erschienene Sammelband The Fate of the Russian Revolution: Lost Texts of Critical Marxism Volume I [Das Schicksal der Russischen Revolution: Verlorene Texte des kritischen Marxismus Band I] (1999), herausgegeben von Sean Matgamna, bringt Texte von Shachtman und seinen Anhängern und versucht, den „bürokratischen Kollektivismus“ wieder zu beleben. Selbst in dieser Auswahl, die ein frisch gebackener Shachtman-Bewunderer mit der „Gnade der späten Geburt“ getroffen hat, enthält Matgamnas Band, wie wir noch sehen werden, reichlich Material, das die vollkommene Hohlheit der von seinem Mentor betriebenen antimarxistischen Analyse der stalinisierten UdSSR demonstriert.

„Sozialismus in einem Land“

Obgleich die Bolschewiki die imperialistischen Invasionen zurückschlugen und den Bürgerkrieg gewannen, lastete auf der jungen Sowjetrepublik das Gewicht einer technologisch und sozial rückständigen landwirtschaftlichen Basis und es mangelte ihr an den Ressourcen, die zum schnellen Wiederaufbau der durch imperialistischen Krieg und Bürgerkrieg zerstörten Infrastruktur und Industrie notwendig gewesen wären. Das Proletariat war fast nicht mehr existent, seine bewusstesten Bestandteile waren im Bürgerkrieg getötet oder in den Staats- und Parteiapparat übernommen worden. Unter diesen Bedingungen machte der erste Arbeiterstaat der Welt mit dem praktischen Ausschluss der Linken Opposition von der 13. Parteikonferenz im Januar 1924 eine politische Konterrevolution durch. In dem daraus hervorgehenden degenerierten Arbeiterstaat zerstörte der von Stalin geführte bürokratische Apparat nicht die vergesellschafteten Eigentumsverhältnisse, entriss aber dem Proletariat die politische Macht. In seiner rückschauenden Analyse der Bürokratie gebrauchte Trotzki den Vergleich mit der Absetzung der radikalen Jakobiner am 9. Thermidor im Verlauf der Französischen Revolution:

„Das Proletariat ist sozial homogener als die Bourgeoisie, enthält aber doch eine ganze Reihe von Schichten, die sich besonders nach der Machtergreifung deutlich voneinander abheben, wenn sich die Bürokratie und eine mit ihr verbundene Arbeiteraristokratie herausbilden. Die Zerschlagung der Linken Opposition war unmittelbar gleichbedeutend mit dem Übergang der Macht aus den Händen der revolutionären Avantgarde in die der konservativeren Elemente der Bürokratie und der Oberschicht der Arbeiterklasse. Das Jahr 1924 war der Beginn des sowjetischen Thermidors.“

— „Arbeiterstaat, Thermidor und Bonapartismus“, 1935

Nach Lenins Tod, ebenfalls im Januar 1924, überflutete die Stalin-Fraktion im „Leninaufgebot“ die bolschewistische Partei mit emporkommenden bürokratischen Elementen und legte im Dezember 1924 das falsche Dogma vom „Sozialismus in einem Land“ vor. „Sozialismus in einem Land“ bedeutete anfänglich die Sackgasse der undurchführbaren wirtschaftlichen Autarkie und des Isolationismus. In der darauf folgenden Periode folgte die Politik der Kommunistischen Internationale einem Zickzackkurs — vom bürokratischen Zentrismus, der während der zweiten Chinesischen Revolution von 1925–27 die selbstmörderische Unterordnung der chinesischen Kommunistischen Partei unter die „nationale Bourgeoisie“ diktierte, über das Sektierertum der „Dritten Periode“, das Hitler 1933 in Deutschland kampflos an die Macht kommen ließ, bis zur offen reformistischen Klassenkollaboration der Volksfront, die die Spanische Revolution von 1936/37 erdrosselte. Die Stalin-Fraktion eliminierte zuerst ihre Rivalen innerhalb der Partei, dann säuberte die Stalin-Clique all jene innerhalb der Fraktion, die in der Lage waren, ihre Autorität in Frage zu stellen. Als die bürokratische Kaste, vertreten durch die Stalin-Clique, ein gewisses historisches Bewusstsein erlangt hatte, diente der „Sozialismus in einem Land“ dazu, bei der illusorischen Suche nach „friedlicher Koexistenz“ mit dem Imperialismus die Umwandlung der ausländischen Kommunistischen Parteien in eine Verhandlungsmasse ideologisch zu rechtfertigen.

Stalin fälschte die Wahlen zur 13. Parteikonferenz und entfesselte in den darauf folgenden Jahren eine Repressions- und Säuberungswelle nach der anderen (siehe: „Der stalinistische Thermidor, die Linke Opposition und die Rote Armee“, Seite 2). Die Grausamkeit von Stalins Repression gegen die Linke Opposition, gegen ehemalige Fraktionsverbündete wie Sinowjew, Kamenjew und Bucharin, gegen die Kulaken, Künstler und Intellektuelle war auf seine Erkenntnis zurückzuführen, dass sein Regime ständig in Gefahr war. Um weiterhin das Erbe der Bolschewiki für sich in Anspruch zu nehmen, während er gleichzeitig das Proletariat politisch enteignete und das internationalistische proletarische Programm der Bolschewiki über Bord warf, benötigte Stalin die „Große Lüge“, gestützt auf Polizeistaatsterror.

Das kapitalistische System in seinem imperialistischen Niedergang bot weiterhin neue revolutionäre Gelegenheiten. Die zyklischen Wirtschaftskrisen, die dem Kapitalismus innewohnen — insbesondere die Weltwirtschaftskrise der 30er-Jahre, die die Radikalisierung des Proletariats vorantrieb —, die inneren Widersprüche der Bourgeoisie, die zu faschistischen Regimen in den ärmeren Staaten und zu einem neuen imperialistischen Krieg der Massenzerstörung zur Neuaufteilung der Welt führten: Das hätte von neuem Revolutionen hervorbringen sollen.

Die westeuropäischen Stalinisten gingen in Italien, Frankreich und anderen Ländern aus dem Zweiten Weltkrieg als die Führung der Massenorganisationen militanter Arbeiter hervor. Besonders dank der Klassenkollaboration der Stalinisten gelang es den amerikanischen Imperialisten, den Kapitalismus in Westeuropa und Japan von neuem zu stabilisieren. Ein Vierteljahrhundert später zwangen die vietnamesischen Stalinisten den amerikanischen Imperialismus in die militärische Niederlage und errichteten einen vereinigten deformierten Arbeiterstaat Vietnam; dies schwächte die Imperialisten nachhaltig. Ende der 60er- und Anfang der 70er-Jahre kam es zu einer Reihe vorrevolutionärer und revolutionärer Situationen in Europa — Frankreich 1968, Italien 1969, Portugal 1975. Sie stellten die besten Gelegenheiten für eine proletarische Revolution in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern seit der unmittelbaren Nachkriegsperiode dar. Es waren die moskautreuen Kommunistischen Parteien, die es wiederum schafften, die erschütterte bürgerliche Ordnung in dieser Region aufrechtzuerhalten. Hier leistete die konterrevolutionäre Rolle der westlichen stalinistischen Parteien einen ungeheuren Beitrag zur späteren Zerstörung der Sowjetunion.

Die endgültige Beseitigung der Errungenschaften des Oktober durch die kapitalistische Konterrevolution 1991/92 war die endgültige Bestätigung der Unmöglichkeit des „Sozialismus in einem Land“. Diese Katastrophe für das Weltproletariat hat die Welt, in der wir leben, tief greifend verändert. Massenarmut und ethnische Konflikte haben die Völker der Sowjetunion und Osteuropas ins Verderben gestürzt. Die formal unabhängigen Nationen der „Dritten Welt“ können nicht mehr zwischen „zwei Supermächten“ manövrieren; sie sind den ungezügelten wirtschaftlichen Erpressungen und brutaler militärischer Gewalt der Imperialisten ausgesetzt. Da die interimperialistischen Rivalitäten nicht länger durch den allen Bourgeoisien gemeinsamen Antisowjetismus im Zaum gehalten werden, sehen sich die Arbeiter in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern verschärften Angriffen ausgesetzt, die das Ziel haben, die Konkurrenzfähigkeit durch eine Steigerung der Ausbeutungsrate der Arbeitskraft zu erhöhen. Das proletarische Bewusstsein ist zurückgeworfen worden; die Arbeiter identifizieren ihre Klasseninteressen nicht mehr wie früher mit den Idealen des Sozialismus, während die Bourgeoisie auf den Zusammenbruch des Stalinismus zeigt als „Beweis“ für den „Tod des Kommunismus“.

Kapitalistische Konterrevolution: Ein „Schritt seitwärts“?

Heute erklären Tony Cliffs Anhänger in den USA dreist: „Die Revolutionen in Osteuropa waren ein Schritt seitwärts — von einer Form des Kapitalismus zu einer anderen“ (Socialist Worker, 23. April 1999). Versucht bloß nicht, das heute einem russischen Arbeiter zu sagen. Die beispiellose wirtschaftliche und soziale Implosion, die jetzt auf dem Gebiet der ehemaligen UdSSR stattfindet, ist der wahre Maßstab dafür, wie historisch fortschrittlich die geplante und kollektivierte Wirtschaft wirklich war. Unter den chaotischen Bedingungen des nachsowjetischen Russlands haben die Gesetze des Kapitalismus zu einem totalen wirtschaftlichen Kollaps geführt: Die Produktion ist seit 1991 um mindestens 50 Prozent zurückgegangen, Kapitalinvestitionen um 90 Prozent. Heute ist ein Drittel der Arbeitskräfte in den Städten Russlands praktisch arbeitslos; 75 Prozent der Bevölkerung leben unterhalb des Existenzminimums oder knapp darüber und 15 Millionen leiden wirklichen Hunger. Die Lebenserwartung ist dramatisch gesunken und liegt jetzt bei Männern bei gerade 57 Jahren, d.h. niedriger als vor einem Jahrhundert, während die Gesamtbevölkerungszahl zwischen 1992 und 1997 tatsächlich um dreieinhalb Millionen zurückgegangen ist.

Statistiken allein können das ganze Ausmaß und die Intensität der Verelendung nicht vermitteln. Die Infrastrukturen von Produktion, Technologie, Wissenschaft, Transportwesen, Heizungs- und Abwasserwirtschaft haben sich aufgelöst. Unterernährung ist bei Schulkindern zur Norm geworden. Etwa zwei Millionen Kinder wurden von ihren Familien sich selbst überlassen, weil sie sie nicht mehr ernähren können. Die Grundversorgung selbst mit Strom und Wasser ist in weiten Teilen des Landes nur noch sporadisch gewährleistet. Mit der Auflösung des ehemaligen staatlichen Systems der allgemeinen Gesundheitsversorgung grassieren Krankheiten wie Tuberkulose. Wie Trotzki vorhergesagt hatte, hat die kapitalistische Restauration die UdSSR in ein verarmtes Ödland verwandelt — Opfer all der Verwüstungen, die die imperialistische Plünderung anrichtet.

Die Cliff-Anhänger und ihresgleichen halten zwar an ihren fadenscheinigen Theorien fest, doch sie sind merkwürdig bescheiden über den wirklichen Beitrag, den sie geleistet haben. Mit der Restauration des Kapitalismus in der UdSSR und in Osteuropa hat sich ihr Programm erfüllt. Wie Shachtman, der Washingtons Schweinebucht-Invasion gegen Kuba unterstützte, taten Cliff & Co. ihr Möglichstes, um dem US-Imperialismus im Kalten Krieg zum Sieg zu verhelfen: Sie gierten nach einer blutigen Niederlage der sowjetischen Truppen in Afghanistan, waren Vorkämpfer für die Glaubwürdigkeit von Solidarnosc als „Gewerkschaft“ — einem Instrument von Vatikan, Wall Street und der westlichen Sozialdemokratie für die kapitalistische Konterrevolution in Polen — und tanzten geradezu auf Jelzins Barrikaden 1991, auf denen sich Schwarzmarkthändler, Monarchisten und Yuppies gesammelt hatten. Socialist Worker (31. August 1991) posaunte Jelzins Sieg hinaus: „Der Kommunismus ist zusammengebrochen... Es ist eine Tatsache, über die jeder Sozialist jubilieren sollte.“ Nun, jetzt haben die Cliff-Anhänger das, was sie wollten.

Wie absurd die „staatskapitalistischen“ und „bürokratisch-kollektivistischen“ Theorien sind, ist angesichts der schlichten Aushändigung des sowjetischen degenerierten Arbeiterstaats und der osteuropäischen deformierten Arbeiterstaaten durch die sich auflösende stalinistische Bürokratie offenkundig. Keine besitzende Klasse in der Geschichte hat je freiwillig ihre Macht aufgegeben. Trotzdem behauptet jetzt Cliff, dessen Anspruch auf Berühmtheit als „Marxist“ hauptsächlich auf seiner Überarbeitung von Kautskys „Staatskapitalismus“ beruht, dass die Konterrevolution in der Ex-UdSSR seine Analyse bestätigt hätte. In seinem Artikel „The Test of Time“ in Socialist Review (Juli/August 1998) behauptet Cliff in einem Nebensatz, der „staatskapitalistische“ Charakter der stalinistischen Bürokratie hätte sich darin gezeigt, dass einige der ehemaligen Bürokraten heute zu Kapitalisten aufgestiegen sind. In Wirklichkeit betonte Trotzki in seinen wegweisenden Werken, so in der Studie Verratene Revolution von 1936, dass der herrschenden Kaste alle Begehrlichkeiten und Absichten der Bourgeoisie anhafteten, sie aber durch die vergesellschafteten Eigentumsformen des degenerierten Arbeiterstaats daran gehindert wurde, ihnen nachzugehen.

Cliff behauptet weiter: „Wäre Russland ein sozialistisches Land oder das stalinistische Regime ein Arbeiterstaat gewesen, und sei es auch nur ein degenerierter oder deformierter, so hätte der Zusammenbruch des Stalinismus bedeutet, dass eine Konterrevolution stattgefunden hätte. Unter diesen Umständen hätten die Arbeiter einen Arbeiterstaat auf die gleiche Weise verteidigt, wie die Arbeiter immer ihre Gewerkschaften verteidigen — wie rechtsgerichtet und bürokratisch sie auch sein mögen — gegen diejenigen, die die Gewerkschaften insgesamt zerstören wollen.“ Die IKL hat den Zusammenbruch des stalinistischen Bonapartismus in Russland in unserer Broschüre von 1993, How the Soviet Workers State Was Strangled [Wie der sowjetische Arbeiterstaat erwürgt wurde], eingehend analysiert, sowie auch in den Dokumenten von Joseph Seymour und Albert St. John, die im Spartacist, deutsche Ausgabe Nr. 16, Herbst 1994, veröffentlicht wurden. In einem kapitalistischen Staat haben Veränderungen des politischen Regimes wenig Einfluss auf die anarchische bürgerliche Wirtschaft, die ja dazu tendiert, automatisch zu funktionieren. Im Gegensatz dazu überträgt die proletarische Revolution die Produktivkräfte direkt dem Staat, den sie geschaffen hat. Eine geplante sozialistische Wirtschaft wird bewusst aufgebaut und ihr Fortbestehen ist untrennbar mit dem politischen Charakter der Staatsmacht verbunden, die diese schützt. Die Tatsache, dass das sowjetische Proletariat die Konterrevolution nicht bekämpfte, zeugt von der systematischen Zerstörung des proletarischen Bewusstseins durch die Bürokratie. Und wie Trotzki in Die III. Internationale nach Lenin (1928) bemerkte: „Wenn eine Armee in einer kritischen Situation ohne einen Schlag aufzufangen vor dem Feinde kapituliert, so ersetzt das in der Politik wie im Kriege — vollständig — eine ,Entscheidungsschlacht‘.“

Die Cliff-Anhänger betrachten letztlich — kaum anders als die Anhänger Shachtmans — die „Macht“ an sich als entscheidend, losgelöst von der Ökonomie. Für sie ergaben sich die Stärke und mutmaßliche Dauerhaftigkeit der stalinistischen Herrschaft aus der unbestreitbaren Grausamkeit von deren Repression. Aus einem tiefen Pessimismus über die revolutionären Fähigkeiten der Arbeiterklasse heraus speien diese Renegaten des Trotzkismus dieselbe Propaganda aus wie die offenen bürgerlichen Verfechter des Kapitalismus, die behaupteten: Stalins Totalitarismus hätte garantiert, dass die russischen Arbeiter nie wieder einen Kampf für ihre eigenen Interessen führen würden, im Gegensatz zu den Arbeitern im „demokratischen“ Westen.

Die „Demokratie“ unabhängig von ihrem Klasseninhalt zum obersten Ziel historischen Fortschritts zu erheben, das ist der älteste Taschenspielertrick aus dem Handbuch für Verteidiger der bürgerlichen Ordnung. In Die proletarische Revolution und der Renegat Kautsky überschüttete Lenin die Kautskyschen Zentristen — die 1922 zur sozialdemokratischen Partei von Ebert, Noske und Scheidemann zurückkehren sollten — mit Spott, weil sie „vor der Bourgeoisie liebedienern, sich dem bürgerlichen Parlamentarismus anpassen, den bürgerlichen Charakter der heutigen Demokratie verschweigen“. Lenin betonte, dass für einen Marxisten „die Form der Demokratie eine Sache ist, eine andere Sache jedoch der Klasseninhalt der betreffenden Institution“.

Der Klassencharakter des Sowjetstaates

Trotzki verstand die Bürokratie als eine alles zersetzende herrschende Kaste — nicht eine besitzende Klasse, sondern einen Auswuchs an dem Staat und den Institutionen, die aus dem Oktober hervorgegangen waren; dies erklärte die offensichtlichen Widersprüche, die letztlich den Stalinismus zum Untergang verurteilten. Als eine Art globaler Mittelsmann, der zwischen einem auf kollektivierten Eigentumsformen basierenden Staat und der imperialistischen Weltordnung balanciert, ist seine Herrschaft zerbrechlich und von Grund auf labil. In „Der Klassencharakter des Sowjetstaats“ (1933) stellte Trotzki fest:

„Der Begriff Klasse ist für Marxisten außerordentlich wichtig und zudem wissenschaftlich genau definiert. Eine Klasse ist nicht nur durch ihren Anteil an der Verteilung des Volkseinkommens, sondern auch durch ihre selbständige Rolle in der Wirtschaftsstruktur und ihre unabhängigen Wurzeln in der ökonomischen Basis der Gesellschaft bestimmt. Jede Klasse (der Feudaladel, die Bauern, das Kleinbürgertum, die kapitalistische Bourgeoisie, das Proletariat) bildet ihre besonderen Eigentumsformen heraus. Der Bürokratie fehlen alle diese sozialen Kennzeichen. Sie hat keine unabhängige Position im Produktions- und Verteilungsprozeß inne. Sie hat keine besondere Wurzel in den Eigentumsverhältnissen. Ihre Funktionen beziehen sich im Grunde auf die politische Technik der Klassenherrschaft...

Gleichwohl ändern sich durch die Privilegien der Bürokratie nicht die Grundlagen der Sowjetgesellschaft, denn die Bürokratie verdankt ihre Privilegien nicht irgendwelchen Eigentumsverhältnissen, die für sie als ,Klasse‘ spezifisch sind, sondern jenen Eigentumsverhältnissen, die von der Oktoberrevolution geschaffen wurden und ihrem Wesen nach der Diktatur des Proletariats angemessen sind...

Kurz gesagt: Wenn die Bürokratie das Volk bestiehlt (und das tut, in verschiedenen Formen, jede Bürokratie), haben wir es nicht mit Klassen-Ausbeutung im wissenschaftlichen Sinn des Wortes zu tun, sondern mit sozialem Schmarotzertum, freilich in großem Stil.“

Im Gegensatz zu Trotzkis marxistischer Auffassung haben alle möglichen antirevolutionären Kräfte der stalinistischen herrschenden Elite irgendeine grundlegende Stabilität zugeschrieben. Auffällig dabei waren natürlich die stalinistischen Ideologen selber, die behaupteten, innerhalb ihrer eigenen Grenzen zuverlässig den „Sozialismus aufzubauen“ (bis sie schließlich die angebliche Unvermeidbarkeit, ja sogar die Überlegenheit des Kapitalismus entdeckten). Wenn auch die endgültige Zerstörung der Oktoberrevolution Trotzkis Analyse und Programm nur negativ bestätigt, so entlarvt sie zumindest alle fadenscheinigen Vorstellungen, die den Stalinismus als stabiles System darstellen.

Shachtman spottete über Trotzkis Warnungen, dass — wenn es keine proletarisch-politische Revolution gibt — die Stalinisten durchaus imstande wären, den Arbeiterstaat zu liquidieren:

„Trotzki schrieb dem Stalinismus, der stalinistischen Bürokratie, die Rolle zu, die ökonomischen Grundlagen des Arbeiterstaats zu untergraben. Durch eine allmähliche Entstaatlichung der Produktionsmittel und des Marktes, durch eine Lockerung des Außenhandelsmonopols, würde der Stalinismus der Restauration des Privateigentums und des Kapitalismus den Weg ebnen ... nichts dergleichen ist passiert.“

— Max Shachtman, „The Counter-revolutionary Revolution“ [Die konterrevolutionäre Revolution], New International, Juli 1943, neu abgedruckt in Matgamna, Hrsg., The Fate of the Russian Revolution

Aber genau das passierte in der UdSSR und in Osteuropa — eine historische Niederlage, die zu verhindern die authentischen Trotzkisten gekämpft haben.

Die „russische Frage“ und das trotzkistische Programm

Trotzki kämpfte dafür, den Arbeiterstaat, der aus der Oktoberrevolution hervorgegangen war, bedingungslos zu verteidigen, trotz der stalinistischen Kaste, die 1923/24 der Arbeiterklasse die politische Macht entrissen hatte, und gegen sie. Die Bürokratie blieb nur durch eine Kombination aus Terror und Lügen an der Macht: Sie atomisierte und demoralisierte das sowjetische Proletariat, untergrub die geplante und kollektivierte Wirtschaft und blockierte im Namen des „Sozialismus in einem Land“ die Möglichkeiten zur Ausweitung der Errungenschaften des Oktober durch proletarische Revolutionen weltweit. Wie Trotzki erklärte:

„Das Sowjetregime läßt zwei entgegengesetzte Tendenzen wachsen. Soweit es im Gegensatz zum verfaulenden Kapitalismus die Produktivkräfte entwickelt, bereitet es das ökonomische Fundament für den Sozialismus vor. Soweit es den Oberschichten zuliebe die bürgerlichen Verteilungsnormen ins Extreme steigert, bereitet es die kapitalistische Restauration vor. Der Widerspruch zwischen Eigentumsformen und Verteilungsnormen kann nicht endlos wachsen. Entweder werden die bürgerlichen Normen — so oder so — auch auf die Produktionsmittel übergreifen, oder umgekehrt die Verteilungsnormen mit dem sozialistischen Eigentum in Einklang gebracht werden müssen.“

Verratene Revolution (1936)

Trotzki verstand die Situation sehr deutlich: Entweder würde eine politische Revolution des sowjetischen Proletariats die bürokratische Kaste stürzen, die die politische Macht an sich gerissen hatte, oder die Bürokratie würde schließlich der kapitalistischen Restauration den Weg bereiten in dem Bestreben, ihre Privilegien dadurch zu sichern, dass sie sich in eine neue besitzende Klasse verwandelt. Doch bis dahin war es die vordringliche Aufgabe eines jeden klassenbewussten Arbeiters auf der Welt, den Arbeiterstaat und die sowjetischen Arbeiter bedingungslos gegen militärische Angriffe des Imperialismus von außen und gegen Versuche einer kapitalistischen Restauration im Innern zu verteidigen. Es gab jedoch diejenigen, die vor dem Druck des bürgerlichen Antisowjetismus kapitulierten und ihrer revolutionären Pflicht, den ersten Arbeiterstaat trotz seiner bürokratischen Entartung bedingungslos zu verteidigen, nicht nachkamen; sie behaupteten, dass dies einer Unterstützung des Stalinismus gleichkomme, und setzten fälschlicherweise die parasitäre Bürokratie mit dem sowjetischen Arbeiterstaat gleich. Trotzki betonte 1934:

„Es wurde uns von verschiedenen Seiten berichtet, dass es unter unseren Freunden in Paris eine Neigung gibt, den proletarischen Charakter der UdSSR zu leugnen, vollständige Demokratie in der UdSSR zu verlangen, einschließlich der Legalisierung der Menschewiki usw...

Die Menschewiki sind die Vertreter der kapitalistischen Restauration, und wir sind für die Verteidigung des Arbeiterstaates mit allen verfügbaren Mitteln. Wer vorgeschlagen hätte, wir sollten den britischen Bergarbeiterstreik von 1926 oder die jüngsten ausgedehnten Streiks in den Vereinigten Staaten nicht mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln unterstützen, mit der Begründung, dass die Streikführer größtenteils Schurken waren, wäre ein Verräter der britischen und amerikanischen Arbeiter gewesen. Das trifft genauso auf die UdSSR zu!“

— Trotzki, „No Compromise on the Russian Question“ [Keinen Kompromiss in der russischen Frage], 11. November 1934

Und Trotzki warnte: „Jede politische Strömung, die die Sowjetunion unter dem Vorwand ihres ,nichtproletarischen‘ Charakters abschreibt, läuft Gefahr, zu einem passiven Werkzeug des Imperialismus zu werden“ („Der Klassencharakter des Sowjetstaats“, Oktober 1933). Vorgebliche „Sozialisten“ der Shachtman/Cliff/Matgamna-Färbung sind weit mehr als nur passive Werkzeuge.

Im scharfen Gegensatz zu dem Unsinn, den Shachtman/ Cliff verbreiten, legte Trotzki eine präzise marxistische Analyse der UdSSR unter Stalins Herrschaft vor. Er griff die Vorstellung an, es sei „vom heutigen Sowjetregime ein Übergang nur zum Sozialismus möglich. Tatsächlich ist auch ein Zurückgleiten zum Kapitalismus durchaus möglich“. Er bemerkte:

„Die UdSSR ist eine zwischen Kapitalismus und Sozialismus stehende, widerspruchsvolle Gesellschaft, in der a) die Produktivkräfte noch längst nicht ausreichen, um dem staatlichen Eigentum sozialistischen Charakter zu verleihen, b) das aus Not geborene Streben nach ursprünglicher Akkumulation allenthalben durch die Poren der Planwirtschaft dringt, c) die bürgerlich bleibenden Verteilungsnormen einer neuen Differenzierung der Gesellschaft zugrundeliegen, d) der Wirtschaftsaufschwung die Lage der Werktätigen langsam bessert und die rasche Herausbildung einer privilegierten Schicht fördert, e) die Bürokratie unter Ausnutzung der sozialen Gegensätze zu einer unkontrollierten und dem Sozialismus fremden Kaste wurde, f) die von der herrschenden Partei verratene soziale Umwälzung in den Eigentumsverhältnissen und im Bewußtsein der Werktätigen noch fortlebt, g) die Weiterentwicklung der angehäuften Gegensätze sowohl zum Sozialismus hin- als auch zum Kapitalismus zurückführen kann, h) auf dem Wege zum Kapitalismus eine Konterrevolution den Widerstand der Arbeiter brechen müßte, i) auf dem Wege zum Sozialismus die Arbeiter die Bürokratie stürzen müßten. Letzten Endes wird die Frage durch den Kampf lebendiger sozialer Kräfte in der nationalen wie der internationalen Arena entschieden werden.“

Verratene Revolution

Die stalinistische Bürokratie war eine instabile Kaste, die sich parasitär auf die vergesellschafteten Grundlagen des Arbeiterstaates stützte, die zu verteidigen sie bisweilen gezwungen war. Dieser widersprüchliche Charakter war selbst in den letzten Jahren des Breschnjew-Regimes mit der sowjetischen Militärintervention in Afghanistan gegen eine von der CIA unterstützte Erhebung frauenfeindlicher islamischer Reaktionäre offenkundig. Er spiegelte sich auch bei der Frage der sowjetischen Unterstützung für den britischen Bergarbeiterstreik 1984/85 wider, der von alten Stalinisten wie dem Außenminister Andrej Gromyko unterstützt wurde, während sich jüngere Elemente um Gorbatschow — damals der zweite Mann im Kreml-Regime — dagegen wandten. Umgekehrt war der Abzug der sowjetischen Truppen aus Afghanistan — der direkt an den Grenzen der UdSSR zur Beschwichtigung des Imperialismus dienen sollte — ein Wink, dass die Stalinisten bald jeglicher Absicht sogar zur Verteidigung der Sowjetunion gegen den Imperialismus abschwören würden.

Unabhängig davon, ob es vonseiten der Bürokratie irgendwelche subjektiv ideologischen Bindungen an das sozialisierte Eigentum gibt oder nicht, die ökonomischen Bewegungsgesetze in einem degenerierten oder deformierten Arbeiterstaat unterscheiden sich von denen, die unter dem Kapitalismus wirken. Ein Industriemanager in der UdSSR war grundlegend anderen ökonomischen Vorgaben unterworfen als ein russischer Kapitalist heutzutage, selbst wenn es sich zufällig um dieselbe Person handelt. Das Ziel eines Kapitalisten besteht darin, Profite zu maximieren, also die Differenz zwischen den Produktionskosten und dem Marktpreis. Das oberste Ziel eines sowjetischen Fabrikdirektors — wovon auch seine zukünftige Karriere abhing — bestand darin, die geplante Produktion an Waren zu maximieren, wenn auch oft zum Nachteil für Qualität und Vielfalt. Das System erzeugte so eine Vollbeschäftigung. In der Tat waren sowjetische Betriebe typischerweise überbesetzt. Und trotz der bürokratischen Misswirtschaft und Korruption sorgte die kollektivierte Planwirtschaft für allgemeine medizinische Versorgung, Wohnraum, Ausbildung, Kinderversorgung und Ferienunterkünfte, was nur möglich war, weil der Kapitalismus enteignet worden war.

Es ist bezeichnend, dass die stalinistische Bürokratie im Gegensatz zu einer herrschenden Klasse keine neue Ideologie zur Rechtfertigung ihrer Privilegien zu entwickeln vermochte. Selbst auf dem grotesken und mörderischen Höhepunkt des „Personenkults“ konnte Stalin, der alle Genossen von Lenin ermordet hatte, nie damit aufhören, sich als Lenins Nachfolger auszugeben. Im Gegensatz dazu war die Begleitmusik zur Restauration des Kapitalismus in der Sowjetunion eine unverhohlene Übernahme kapitalistischer Ideologie: Der Kommunismus war ein Experiment, das fehlschlug, der Zauber des Marktes bedeutet Wohlstand, Stalin war schlimmer als Hitler usw.

Trotzki bemerkte, dass die fortgeschrittensten kapitalistischen Ökonomien der Welt weiterhin produktiver waren als die Sowjetwirtschaft und stellte fest, dass die Macht billiger Waren sich letztlich für die UdSSR als gefährlicher erweisen würde als offene Kriegshandlungen. Obwohl sich diese Beobachtung als überaus prophetisch erwies, so basierte sie doch einfach auf dem grundlegenden marxistischen Verständnis, dass der Sozialismus als Weltsystem aufgebaut werden muss. Solange Wall-Street-Finanziers, deutsche Industrielle und japanische Zaibatsu den Löwenanteil des produktiven Reichtums auf diesem Planeten besitzen, kann die kommunistische Vision einer klassen- und staatenlosen Gesellschaft nirgends verwirklicht werden. Für Trotzki stand die Frage: Werden die Arbeiter die Bürokratie stürzen oder wird die Bürokratie den Arbeiterstaat auffressen? Diese Frage war keinesfalls abstrakt; Trotzki widmete sein Leben — bis zu seiner Ermordung durch Stalin — dem Bestreben, das Proletariat in der UdSSR und international zur Verteidigung der Errungenschaften des Oktober zu mobilisieren, nicht zuletzt durch den Kampf für neue Oktoberrevolutionen.

Ursprünge und Entwicklung von Shachtmans „bürokratischem Kollektivismus“

Shachtmans Theorie von der „Neuen Klasse“ in der UdSSR entstand, als ein Teil der amerikanischen trotzkistischen Partei die bedingungslose militärische Verteidigung der Sowjetunion über Bord warf — zu einer Zeit, als es darauf ankam. Der Auslöser war der Hitler-Stalin-Pakt von 1939, der dramatische Auswirkungen auf das Milieu der kleinbürgerlichen „Progressiven“ hatte, die sich in der vorangegangenen Periode der Volksfront-Flitterwochen mit Roosevelts „New Deal“ irgendwie als „Freunde“ der Sowjetunion verstanden hatten, während sie in Wirklichkeit nach wie vor ihre grundsätzliche Loyalität zur amerikanischen „Demokratie“ aufrechterhielten. Max Shachtman, James Burnham und Martin Abern, alles Mitglieder des Führungskomitees der amerikanischen trotzkistischen Partei, der Socialist Workers Party (SWP), taten sich in den Jahren 1939/40 zusammen, um das langjährige trotzkistische Programm der Verteidigung der Sowjetunion anzugreifen. Wegen der Bedingungen, die der Krieg in Europa geschaffen hatte, ersetzte der Kampf in der amerikanischen Sektion einen Kampf in der gesamten Vierten Internationale.

Leo Trotzki führte im letzten großen Fraktionskampf seines Lebens den Gegenangriff gegen die Shachtman-Anhänger. In einer Reihe von vernichtenden Polemiken, später von der SWP unter dem Titel Verteidigung des Marxismus (1942) veröffentlicht, betonte Trotzki nachdrücklich, dass Stalins diplomatisches und militärisches Bündnis mit Hitler nichts an dem Klassencharakter des sowjetischen degenerierten Arbeiterstaates änderte, wie er ihn in Verratene Revolution analysiert hatte. Trotzki entlarvte, wie die Minderheit in der amerikanischen SWP mit der Preisgabe der Verteidigung der Sowjetunion die theoretischen Grundlagen des revolutionären Marxismus selbst preisgegeben hatte. Er verspottete das Argument der amerikanischen Minderheit, dass die militärische Verteidigung der UdSSR in Finnland und Polen bedeute, die stalinistische Bürokratie politisch zu unterstützen.

Die Verteidigung der Sowjetunion war innerhalb der trotzkistischen Bewegung eine andauernde Quelle von Kontroversen gewesen. In dem Kampf von 1939/40 wiederholte Trotzki Argumente, die er bereits 1929 gegen jene Linken Oppositionellen vorgebracht hatte, die sich geweigert hatten, im Streit um die Ostchinesische Eisenbahn die UdSSR gegen China zu verteidigen; gegen Hugo Urbahns, der diese Position verallgemeinerte und die Sowjetunion als „staatskapitalistisch“ bezeichnete; gegen Yvan Craipeau in Frankreich, der sich 1937 darauf versteifte, dass die Sowjetbürokratie eine neue herrschende Klasse sei; gegen James Burnham und Joe Carter, die ihren revisionistischen Kurs 1937 begannen, als sie argumentierten, man könne die UdSSR nicht länger als Arbeiterstaat betrachten, obwohl sie (bis zum Hitler-Stalin-Pakt) behaupteten, das kollektivierte Eigentum und die Planwirtschaft zu verteidigen.

Das wirkliche Motiv für die Flucht der Shachtman-Anhänger weg vom Programm der Vierten Internationale war ihr Nachgeben gegenüber dem Druck der bürgerlichen öffentlichen Meinung. James P. Cannon, der Gründer des amerikanischen Trotzkismus, beleuchtete in seinen Schriften von 1939/40, die später in dem Buch The Struggle for a Proletarian Party (Der Kampf für eine proletarische Partei) erschienen — der ergänzenden Schrift zu Trotzkis In Verteidigung des Marxismus —, die Verbindung zwischen Shachtmans Politik und der Tatsache, dass er sich auf schwankende kleinbürgerliche Schichten der Partei basierte, die mit ihrem historischen Milieu nicht gebrochen hatten. Der Anti-Cannon-Block von 1939/40 hatte in Wirklichkeit keine zusammenhängende Analyse über den Charakter des Sowjetstaats. James Burnham schätzte inzwischen die Sowjetunion als eine neue Form von Klassengesellschaft ein; er spottete bereits offen über den dialektischen Materialismus und es dauerte nur wenige Monate, bis er sich von seinen ehemaligen Fraktionsverbündeten und von der marxistischen Bewegung überhaupt verabschiedete. Abern und seine Clique behaupteten, die Sowjetunion als degenerierten Arbeiterstaat einzuschätzen, aber sie hatten eine lange Geschichte, ihren kleinlichen Organisationsgroll gegen das Cannon-„Regime“ immer höher zu stellen als das revolutionäre Programm oder revolutionäre Prinzipien. Shachtman behauptete, keine Position zum Sowjetstaat zu haben, mit dem Argument, dass dies auf jeden Fall für die „konkrete“ vorliegende Frage unwichtig sei. In einem seiner letzten Dokumente als SWP-Mitglied behauptete er, dass er die UdSSR, sollte sie je wirklich von imperialistischer Invasion bedroht werden, verteidigen würde.

Der Oppositionsblock fiel weniger als einen Monat nach dem Abschied von Shachtman und seiner Gefährten aus der SWP, um die Workers Party (WP) zu gründen, auseinander. Burnham verwarf den Marxismus und machte sich in sein bürgerliches akademisches Refugium davon. Dann schrieb er The Managerial Revolution (1941), wo er Hitlers Deutschland und Stalins Russland als Vorboten einer neuen bürokratischen Klassengesellschaft ausmacht. Shachtman und seine Anhänger (Abern fuhr bis zu seinem Tode 1947 mit seinem cliquistischen Taktieren fort) gingen ebenfalls dazu über, ihr anfängliches Zurückweichen zu verallgemeinern, und charakterisierten die UdSSR als eine neue Form von Klassengesellschaft, als „bürokratischen Kollektivismus“.

Shachtmans Minderheit hatte mit der Unterstützung von über 40 Prozent der Partei und mit der Mehrheit der Jugendorganisation der SWP gerechnet, d.h. mit etwa 800 Mitgliedern. Im Herbst 1940 konnten sie aber nur 323 Mitglieder vorweisen. Dies führte zu einem „Rückstoß“-Effekt: Der Schwerpunkt der Workers Party verschob sich anfänglich gegenüber der ursprünglichen kleinbürgerlichen Opposition nach links, während die rechteren Elemente — allen voran Burnham — die Abspaltung von der SWP einfach zum Anlass nahmen, die politische Arena ganz zu verlassen. Im Zweiten Weltkrieg war die WP eine linkszentristische Formation, die nach einer abgeschlossenen Theorie tastete, um ihre Flucht vor der Verteidigung der Sowjetunion zu rechtfertigen.

Als Hitler sich gegen Stalin kehrte (wie Trotzki es vorausgesagt hatte) und im Juni 1941 in die UdSSR einmarschierte, kam es in der WP zu einem Kampf darüber, ob man die Sowjetunion verteidigen sollte; eine Hand voll WP-Jugendlicher in Los Angeles kehrte zur SWP zurück, als die WP Shachtmans früheres Versprechen, er würde die UdSSR im Falle einer Invasion verteidigen, nicht einlöste. Die Position der Klassenneutralität im Krieg zwischen Deutschland und der UdSSR, die die WP einnahm, stellte einen weiteren gewaltigen Schritt in Richtung der Konsolidierung ihres revisionistischen Kurses dar.

Aber die UdSSR/US-Allianz nach dem Juni 1941 führte zu einem Aussetzen des einheimischen Antisowjetismus und erlaubte es dem „Dritten Lager“, sich als relativ links darzustellen. Mit der Ankurbelung der Kriegsindustrien konnten die vorher chronisch arbeitslosen kleinbürgerlichen WP-Jugendlichen industrielle Arbeitsplätze bekommen und wurden zu einem ernst zu nehmenden Faktor in den Gewerkschaften, wo sie mit der SWP konkurrierten als eine klassenkämpferische Opposition zu den Sozialpatrioten der Roosevelt-treuen Gewerkschaftsbürokratie und zur stalinistischen Kommunistischen Partei. Die WP verstand sich als Sektion der Vierten Internationale; am Ende des Krieges kam es zu „Einheits“-Verhandlungen zwischen WP und SWP, die freilich zu nichts führten.

1948 wandte sich Shachtman endgültig von der Vierten Internationale ab — ein Ausdruck seiner rasanten Rechtsentwicklung angesichts des neuerlichen bürgerlichen Antisowjetismus bei Ausbruch des Kalten Krieges. 1949 änderte die Workers Party, die nicht mehr die Führung der amerikanischen Arbeiterklasse anstrebte, ihren Namen in Independent Socialist League (ISL); die meisten der WP-Jugendlichen hatten bereits lange zuvor die Gewerkschaften verlassen, um ihre akademischen und kleinbürgerlichen Karrieren zu verfolgen. Die Auflage der Zeitung der Shachtman-Anhänger, Labor Action, die während des Zweiten Weltkriegs 20000 bis 25000 betragen hatte, war 1953 auf knapp über 3000 zurückgegangen. Die ISL bestand aus Möchtegern-Sozialdemokraten, die die Möglichkeit eines friedlichen Übergangs zum Sozialismus im Nachkriegsbritannien unter Attlee propagierten und den Autoarbeiter-Bürokraten Walter Reuther dazu drängen wollten, eine Arbeiterpartei zu gründen. Aber die Bürokratien von AFL und CIO gehörten zu den Vorreitern des antikommunistischen Kreuzzugs. Als die Shachtman-Anhänger dann 1958 im Bodensatz der amerikanischen Sozialdemokratie aufgingen, erklärten sie: „Wir bekennen uns nicht zu einem als Leninismus bekannten oder entsprechend definierten Glauben. Wir bekennen uns nicht zu einem als Trotzkismus bekannten oder entsprechend definierten Glauben“ (New International, Frühjahr/ Sommer 1958). Sie lösten sich bald auf: Shachtman und seine engsten Gesinnungsgenossen landeten an der Seite von George Meany auf dem antikommunistischsten rechten Flügel der Demokraten; Michael Harrington zog es zum liberaleren Flügel der Demokraten, während Hal Draper in der Neuen Linken in Berkeley sein Unwesen trieb und bei der Gründung der Independent Socialists half, dem Vorläufer der amerikanischen ISO.

Ein Programm, verpackt in einer „Theorie“

Zwar ist Cliffs Version des „Staatskapitalismus“ heutzutage bei der Linken besser bekannt als der seinerzeitige „bürokratische Kollektivismus“, doch der Unterschied zwischen den beiden Theorien ist mehr eine Frage der äußeren Umstände als des grundlegenden Inhalts. Die Lehre Cliffs ist das britische Gegenstück zur amerikanischen Shachtman-Politik, sie beruht auf einem identischen politischen Impuls und Programm, tritt jedoch auf einem unterschiedlichen nationalen Terrain auf.

Die britische trotzkistische Bewegung war bereits zutiefst aufgesplittert und in der herrschenden Labour Party vergraben, als Cliff sich dem Druck der Kalten-Kriegs-Offensive der Imperialisten während des Koreakriegs beugte. Deshalb war der Kampf gegen Cliffs Revisionismus nicht die definitive Polarisierung zwischen kleinbürgerlichen und proletarischen Tendenzen, wie es der Kampf von 1940 für den amerikanischen Trotzkismus darstellte. Aber programmatisch war Cliffs Bruch mit dem revolutionären Marxismus sogar noch entscheidender. Cliff hatte bereits seine Absicht erklärt, die ganze sowjetische Erfahrung abzuschreiben, als er die „staatskapitalistische“ theoretische Rechtfertigung für seine Preisgabe der Verteidigung des ersten Arbeiterstaates der Welt ausarbeitete. Da er in Britannien agiert, wo seine Kapitulation vor der bürgerlichen Gesellschaftsordnung durch die „Klein-England“-Sozialdemokratie vermittelt wird, ist Cliff imstande, sich linker zu geben als Shachtman in seinen späteren Jahren.

Auf der Ebene der „Theorie“ wies Cliff die Vorstellung von der Sowjetbürokratie als einer neuen „bürokratisch-kollektivistischen“ herrschenden Klasse zurück und hauchte der kautskyanischen Auffassung der UdSSR als lediglich einer Form des Kapitalismus neues Leben ein. Cliffs vermeintlicher Ruf als Theoretiker stützt sich auf sein Buch von 1955, Stalinist Russia: A Marxist Analysis [Das stalinistische Russland: Eine marxistische Analyse]. In diesem Werk versucht er, mit einer angeblichen „marxistischen“ ökonomischen Analyse den „staatskapitalistischen“ Charakter der Sowjetbürokratie dadurch zu beweisen, dass er Begriffe, die für Marxisten eine präzise Bedeutung besitzen (Konkurrenz, Akkumulation, Ware, Wert usw.), einer plumpen und unredlichen Neudefinierung unterwirft. Cliff zufolge sieht sich eine „kollektive“ Kapitalistenklasse (gemessen an jedem marxistischen Maßstab an sich schon eine Absurdität) gezwungen, „Profit“ zu akkumulieren, um mit dem kapitalistischen Westen militärisch „konkurrieren“ zu können, was eine nach dem Wertgesetz funktionierende Marktwirtschaft hervorbringe. Cliff musste der sowjetischen Realität äußerste Gewalt antun, um sie für seine „Theorie“ zurechtzuschneidern. (Siehe „The Anti-Marxist Theory of ,State Capitalism‘ — A Trotskyist Critique“, Young Spartacus Nr. 51–53, Februar, März und April 1977. Eine Diskussion über das Trugbild „staatskapitalistischer“ Theorie anhand einer Untersuchung klassischer marxistischer Ökonomie findet man insbesondere bei Ken Tarbuck, „The Theory of State Capitalism — The Clock Without a Spring“, veröffentlicht in den britischen Marxist Studies Band 2, Nr. 1, Winter 1969/70, abgedruckt im Juli 1973 als Nr. 5 der Schriftenreihe Marxist Studies der SL/U.S.)

Die Argumente von Cliff — und vorher Shachtman — deckten sich mit denen der offenen Kalten Krieger und waren mitunter wegweisend für diese wie auch für die Sozialdemokraten, die durch weltumspannende antikommunistische Kreuzzüge Karriere gemacht haben. Obgleich es, wie wir gesehen haben, eine Weile dauerte, bis die antisowjetischen Implikationen von Shachtmans Abspaltung vom Trotzkismus voll zum Tragen kamen, hatte Shachtman, als er 1972 starb, sein letztes Jahrzehnt als lupenreiner Sozialpatriot verbracht, der sogar den Versuch des US-Imperialismus unterstützte, die Vietnamesische Revolution in Blut zu ertränken. Seinen vielleicht konkretesten Dienst für den Imperialismus absolvierte er als Vordenker der Bürokratie der amerikanischen Lehrergewerkschaft, die als Arm des US-Außenministeriums fungierte, ein Musterbeispiel von „AFL-CIA“-Gewerkschaftertum. Dabei unterstützte und bezahlte sie antikommunistische Gangster, die nach dem Zweiten Weltkrieg kämpferische linke Gewerkschaften in Westeuropa zerschlugen, und stellte den faschistoiden Verbänden „unterjochter Nationen“, die für die Konterrevolution im „Sowjetblock“ arbeiteten, ein „Arbeiter“- Mäntelchen zur Verfügung.

Im Grunde basiert der „bürokratische Kollektivismus“ auf einem formalen Syllogismus: Die Produktionsmittel gehören dem Staat, der Staat „gehört“ (d.h. steht unter der Kontrolle) der Bürokratie; deshalb „besitzt“ die Bürokratie das Eigentum und bildet eine herrschende Klasse. Aber Eigentum muss persönlicher Besitz sein, um für Individuen von dauerhaftem Nutzen zu sein — das ist grundlegend für das Verständnis von Ausbeutung. „Bürokratischer Kollektivismus“ hebt die Grundlage des Marxismus selbst auf: das Verständnis, dass es zwei Hauptklassen in der kapitalistischen Gesellschaft gibt, das Proletariat und die Bourgeoisie, die durch ihre Beziehung zu den Produktionsmitteln definiert sind. Shachtmans Theorie postuliert die Existenz einer neuen „bürokratischen“ herrschenden Klasse, die nicht durch das private Eigentum an den Produktionsmitteln definiert ist. Shachtman zufolge barg der „bürokratische Kollektivismus“ die Möglichkeit in sich, weltweit zur dominierenden Produktionsweise zu werden im Wettstreit mit Kapitalismus wie auch Sozialismus.

Shachtmans Theorie war ein Produkt seiner Zeit. Die Vorstellung, dass Großunternehmen nicht mehr von ihren Eigentümern, sondern von Managern kontrolliert würden, war in den 30er-Jahren in den USA en vogue. Eine einflussreiche Darstellung dieser Sichtweise war The Modern Corporation and Private Property [Die moderne Aktiengesellschaft und das Privateigentum] (1932) von A.A. Berle und G.C. Means. (Natürlich erleichterte die Weltwirtschaftskrise das Abschreiben der wichtigen Rolle des Besitzes in der kapitalistischen Gesellschaft, als überhaupt keine Dividenden erwirtschaftet wurden.) Diese impressionistische Sicht einer neuen Elite von Managern gab den Anstoß zu The Managerial Revolution, dem Werk von Shachtmans ehemaligem Theoretiker James Burnham.

Bürokratischer Kollektivismus geht davon aus, dass das Verlangen nach abstrakter Macht und nicht die private Aneignung von Reichtum die entscheidende Triebkraft der Geschichte der Menschheit ist. In der Logik dieser Sichtweise liegt auch ein tief gehender historischer Pessimismus, der für das revolutionäre Proletariat keine Möglichkeit mehr sieht, das nötige Bewusstsein zu erlangen, um die Menschheit aus ihrer historisch ausweglosen Situation hinauszuführen. Frei nach George Orwells Aufsatz „James Burnham and the Managerial Revolution“ von 1946 könnte man Burnhams Sichtweise des Schicksals der Mehrheit der menschlichen Rasse zusammenfassen mit dem Satz: „Ein Stiefel im Gesicht für immer“. Bei vielen, die sich in dieser Periode von der trotzkistischen Bewegung getrennt haben, führte der historische Pessimismus über die Aussichten einer proletarischen Revolution zur Versöhnung mit dem „demokratischen“ Imperialismus. Trotzkis ehemaliger Mitarbeiter Victor Serge und der Gründer des chinesischen Trotzkismus Chen Duxiu folgten im Zweiten Weltkrieg der Logik ihrer Verzweiflung in das Lager der imperialistischen „Alliierten“.

Für einen Marxisten ist eine herrschende Klasse eine Schicht von Leuten, die durch ihren Besitz der Produktionsmittel gekennzeichnet sind — nicht vorrangig durch ihre Ideologie, ihre Moral oder Unmoral, ihren Machthunger, ihren Lebensstandard usw. Der springende Punkt ist nicht, die sowjetische Wirklichkeit in herabsetzender Weise zu beschreiben, sondern ihre Bewegungsgesetze und ihre Entwicklungsrichtung zu analysieren. Gegen die frühen Vertreter „staatskapitalistischer“ Theorien bemerkte Trotzki:

„Der Versuch, die Sowjetbürokratie als eine Klasse von ,Staatskapitalisten‘ hinzustellen, hält der Kritik sichtlich nicht stand. Die Bürokratie hat weder Aktien noch Obligationen. Sie rekrutiert, ergänzt, erneuert sich kraft einer administrativen Hierarchie, ohne Rücksicht auf irgendwelche besonderen, ihr eigenen Besitzverhältnisse. Der einzelne Beamte kann seine Anrechte auf die Ausbeutung des Staatsapparates nicht weitervererben. Die Bürokratie genießt ihre Privilegien in mißbräuchlicher Weise. Sie verschleiert ihre Einkünfte. Sie tut, als existiere sie gar nicht als besondere soziale Gruppe. Die Aneignung eines enormen Anteils des Volkseinkommens durch die Bürokratie ist soziales Schmarotzertum. All das macht die Lage der kommandierenden Sowjetschicht trotz ihrer Machtfülle und trotz des sie umgebenden Dunstschleiers der Schmeichelei im höchsten Grade widersprüchlich, zweideutig und würdelos.“

Und er fuhr fort:

„Man mag einwenden, es sei dem großen Bürokraten gleichgültig, welche Eigentumsformen vorherrschen, solange sie ihm nur das nötige Einkommen garantieren. Dieser Einwand übersieht nicht nur, wie unsicher die Rechte des Bürokraten sind, sondern auch die Frage der Nachkommenschaft. Vom Himmel ist der neuerstandene Familienkult nicht gefallen. Die Privilegien sind nur halb soviel wert, wenn man sie nicht den Kindern vermachen kann. Doch das Erbrecht ist vom Eigentumsrecht nicht zu trennen. Es genügt nicht, Direktor eines Trusts zu sein, man muß Teilhaber sein. Ein Sieg der Bürokratie auf diesem entscheidenden Gebiet würde bedeuten, daß sie sich in eine neue besitzende Klasse verwandelt hat.“

Verratene Revolution

Die „Theorien“ von Shachtman/Cliff erleiden Schiffbruch

Was ihre Prognose für die Sowjetunion und Osteuropa anging, so erwiesen sich alle Theorien von der „Neuen Klasse“ als ein Hohn. Die bürokratische Kaste war unfähig, als herrschende Klasse zu handeln; es waren Personen mit Macht, aber ohne eine Basis für diese Macht im individuellen Privateigentum an den Produktionsmitteln, sie konnten nicht handeln wie Alfred Krupp, Henry Ford, die Rockefellers oder selbst wie Wilhelm der Eroberer. In seinem Sammelband der Schriften Shachtmans und seiner Anhänger macht Matgamna keinen Versuch, Shachtmans Theoretisiererei an der historischen Entwicklung zu messen, an den Arbeiteraufständen in Osteuropa in den 50er-Jahren, am endgültigen Zusammenbruch des Stalinismus 1990/91. Diese Tatsache allein verurteilt das Buch schon als eine sterile Übung.

Allein das Beispiel der Ungarischen Revolution von 1956 widerlegt entscheidend die Auffassung, die stalinistische Bürokratie sei eine herrschende Klasse. Angesichts einer prosozialistischen proletarischen politischen Revolution gegen das verhasste Rákosi-Regime spaltete sich die Bürokratie von oben bis unten, und 80 Prozent der Kommunistischen Partei gingen auf die Seite der Arbeiterrevolution über. Nahezu das gesamte Offizierskorps der Armee sowie der Polizeichef von Budapest weigerten sich, den Arbeiteraufstand zu unterdrücken. Wer hat je von einer herrschenden Klasse gehört, die sich so verhält?

Bei der beginnenden proletarisch-politischen Revolution in der DDR 1989/90 und später in der Sowjetunion kämpften wir mit allen unseren (begrenzten) Kräften für die Mobilisierung des ostdeutschen und des sowjetischen Proletariats gegen die sich entwickelnde Konterrevolution. Dabei führten wir einen Kampf gegen die abdankenden Erben Stalins, die zuerst die osteuropäischen deformierten Arbeiterstaaten (am bedeutendsten die DDR) und dann die UdSSR selbst einfach an die Kapitalisten aushändigten. Viele sowjetische und deutsche Arbeiter, die wir mit Trotzkis Verratener Revolution bekannt machten, sagten uns, dass seine Beschreibungen des Lebens unter dem Stalinismus sich lesen, als ob sie gerade erst geschrieben worden seien. Die stalinistische Ideologie — von dem Bestreben der Bürokratie diktiert, ihre privilegierte Stellung zu erhalten — war eine zusammengewürfelte Mischung marxistischer Begriffe, um das ganz und gar antimarxistische Programm vom „Sozialismus in einem Land“, von „friedlicher Koexistenz“ und einem „Antiimperialismus“, der als Kampf zwischen „fortschrittlichen“ und „reaktionären“ Völkern definiert wurde, zu überdecken. Die Stalinisten pervertierten den Marxismus und entwaffneten damit politisch die durch Repression atomisierten Arbeiterklassen, indem sie die einzig mögliche langfristige Basis für die Diktatur des Proletariats zerstörten: eine klassenbewusste Arbeiterklasse, die für ihre historischen Interessen kämpft.

In Verratene Revolution verband Trotzki das Überleben der Errungenschaften des Oktober nicht nur mit den ökonomischen Grundlagen des Arbeiterstaats, sondern auch mit dem Bewusstsein des sowjetischen Proletariats: „Die Oktoberrevolution ist von der herrschenden Schicht verraten, aber noch nicht gestürzt. Sie besitzt eine große Widerstandskraft, die zusammenfällt mit den neuen Eigentumsverhältnissen, der lebendigen Kraft des Proletariats, dem Bewußtsein seiner besten Elemente, der ausweglosen Lage des Weltkapitalismus und der Unvermeidlichkeit der Weltrevolution.“

Shachtman/Cliff: Antikommunismus kontra Marxismus

Die in The Fate of the Russian Revolution: Lost Texts of Critical Marxism Volume I veröffentlichten Dokumente enthüllen, wie sehr die Shachtmansche Theorie sich im Lauf der Zeit geändert hat. Das zeigt, wie fruchtlos der „bürokratische Kollektivismus“ als Versuch war, die Realität zu verstehen und ihre zukünftige Entwicklung vorauszusehen. Shachtman fängt beim Fraktionskampf 1939/40 mit dem Argument an, dass die Sowjetunion nicht verteidigt werden könne, weil die Stalinisten die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse in Finnland und den baltischen Staaten nicht umstürzen würden. 1948 dann argumentieren er und die übrigen Ideologen der Workers Party, dass die Sowjetunion nicht verteidigt werden könne, weil die Rote Armee die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse in Osteuropa umstürzt (wodurch sie angeblich zeigte, dass sie eine neue herrschende Klasse sei).

Als Shachtman die SWP verließ, argumentierte er, dass Revolutionäre das kollektivierte Eigentum der UdSSR verteidigen sollten, falls der Imperialismus es wirklich bedrohte, und das vertrat er auf den Seiten der New International auch noch im Dezember 1940. Aber als Hitler im Juni 1941 in die Sowjetunion einmarschierte und die Verteidigung der UdSSR konkret anstand, schlug er einen anderen Ton an und argumentierte, dass die Verteidigung der Sowjetunion unzulässig sei, weil die UdSSR mit dem „demokratischen“ imperialistischen Lager militärisch verbündet war.

Bei seinem einzigen Ausflug ins selbstständige „Theoretisieren“ argumentierte Shachtman in Is Russia a Workers State? [Ist Russland ein Arbeiterstaat?] vom Dezember 1940, die UdSSR sei ein „bürokratischer Staatssozialismus“ und Revolutionäre sollten nach wie vor ihre kollektivierten „Eigentumsformen“ verteidigen, wobei sie erkennen müssten, dass es ihr an kollektivierten „Eigentumsverhältnissen“ mangele. Diese ganz und gar falsche Unterscheidung zwischen Eigentumsformen und Eigentumsverhältnissen, die jeglicher marxistischer Grundlage entbehrt, wurde von Joseph Hansen einer vernichtenden Kritik unterzogen („Burnham’s Attorney Carries On“, Fourth International, Februar 1941). Auch Joe Carter griff diese falsche, von Shachtman erfundene Unterscheidung an; in Matgamnas Buch ist Carters Artikel „Bureaucratic Collectivism“ (New International, September 1941) abgedruckt — unter Weglassung des Angriffs auf Shachtman.

Als die Workers Party im Dezember 1940 die Position annahm, dass die Sowjetbürokratie eine voll entwickelte „bürokratisch-kollektivistische“ herrschende Klasse sei, äffte sie weiterhin Trotzkis Argumente nach über die stalinistische Herrschaft als eine besondere Erscheinung Russlands, die durch die deformierende Isolation des ersten Arbeiterstaates zustande gekommen war. So postulierte sie eine herrschende Klasse, die keine Vergangenheit und keine Zukunft hatte und keine notwendige Beziehung zu den Produktionsmitteln; deren offizielle „Ideologie“ selbst die Tatsache ihrer eigenen Existenz bestritt.

Mit der Besetzung Osteuropas durch die Rote Armee am Ende des Krieges gedieh der bürokratische Kollektivismus zur ausgewachsenen Stalinophobie, als die Workers Party behauptete, dass der stalinistische Bürokratismus mit dem Kapitalismus um die Weltherrschaft konkurriere:

„Konkret sehen wir hier die Entwicklung des stalinistischen Russland zu einem voll entwickelten reaktionären Imperium, das nicht nur das russische Volk unterdrückt und ausbeutet, sondern auch ein Dutzend anderer Völker und Nationalitäten; und zwar auf die grausamste und barbarischste Art und Weise...

Die Theorie, dass die stalinistischen Parteien (wie die traditionellen reformistischen Organisationen) Agenten der Kapitalistenklasse sind, dass sie ,vor der Bourgeoisie kapitulieren‘, ist grundlegend falsch. Sie sind Agenturen des russischen bürokratischen Kollektivismus.“

— Resolution der Workers Party, New International, April 1947 (abgedruckt in The Fate of the Russian Revolution)

Trotzki erwartete, dass die fragile stalinistische Bürokratie durch den proletarischen Aufstand gestürzt werde, den der Zweite Weltkrieg unweigerlich hervorrufen würde. Stattdessen lenkten die reformistischen stalinistischen und sozialdemokratischen Parteien die Arbeiterkämpfe am Kriegsende ab und erlaubten, dass die einmarschierenden Armeen der Alliierten die kapitalistische Herrschaft in Westeuropa von neuem stabilisierten. In Osteuropa sorgte die Besetzung durch die Rote Armee, die die Flucht der Nazis und der mit ihnen verbündeten herrschenden Klassen zur Folge hatte, für eine Atempause. Die Errichtung deformierter Arbeiterstaaten in Osteuropa durch Stalin war von militärischen und sicherheitspolitischen Überlegungen diktiert, als sich die imperialistischen Alliierten gegen ihren ehemaligen Verbündeten wandten und den Kalten Krieg begannen. Einheimische Revolutionen, die sich auf die Bauernschaft stützten und von KP-Kräften geführt wurden, brachten auch in Jugoslawien und 1949 in China neue deformierte Arbeiterstaaten hervor.

Shachtmans Schriften, die Matgamna in seinem Buch stolz auftischt, sind durchdrungen vom Antikommunismus des Kalten Krieges, der in Erklärungen wie diesen zutage tritt: „Stalinismus zeigt sich am ,unverfälschtesten‘ in den Sklavenarbeitslagern“ (aus einem Artikel von Louis Jacobs [Jack Weber] von 1947, den Matgamna veröffentlicht), oder: „Sklavenarbeit ist kein zufälliger oder oberflächlicher Auswuchs des stalinistischen Regimes; sie ist integraler Bestandteil, gehört zu seinem Wesen und ist ihm unersetzlich“ (aus einem Artikel in der New International vom Dezember 1947, den Matgamna nicht nachdruckt). Der stalinistische Gulag — der zur politischen Unterdrückung bestimmt war, nicht zur ökonomischen Ausbeutung — stellte ein System der Zwangsarbeit in Sibirien und anderen Gegenden dar, wo es unmöglich war, Arbeiter für geringen Lohn auf freiwilliger Basis zu bekommen. Aber solche Methoden sind unvereinbar mit qualifizierter Arbeit, die irgendeine Fertigkeit oder Ausbildung erfordert. Weit davon entfernt, für die sowjetische Wirtschaft „unersetzlich“ zu sein, wurden sie in der Liberalisierung, die auf Stalins Tod folgte, durch rationalere Formen des finanziellen Anreizes ersetzt. Die kapitalistische Konterrevolution dagegen hat die sibirische Bevölkerung als außerhalb der politischen Ökonomie stehende Überschussbevölkerung dem Hunger, der Krankheit und der Kälte preisgegeben.

Als der sowjetische degenerierte Arbeiterstaat schließlich von Stalins Erben zerstört wurde, lief die Entwicklung auf eine Weise ab, die auffallend mit Trotzkis Voraussagen übereinstimmt. So hatte Trotzki 1936 geschrieben:

„Die bürgerliche Gesellschaft hat in ihrer Entwicklung oft das politische Regime und die bürokratischen Kasten gewechselt, ohne ihre sozialen Grundlagen zu ändern... Die Staatsmacht konnte die kapitalistische Entwicklung fördern oder hemmen, doch im allgemeinen verrichteten die Produktivkräfte auf der Grundlage des Privateigentums und der freien Konkurrenz ihr Werk selbständig. Hingegen sind die aus der sozialistischen Revolution hervorgegangenen Besitzverhältnisse unlösbar an den neuen Staat, ihren Träger, gebunden...

Ein Zusammenbruch des Sowjetregimes würde unweigerlich einen Zusammenbruch der Planwirtschaft und damit die Abschaffung des staatlichen Eigentums nach sich ziehen. Die Zwangsbindung der Trusts untereinander und zwischen den Fabriken eines Trusts würde sich lockern. Die erfolgreichsten Unternehmen würden sich beeilen, eigene Wege zu gehen. Sie könnten sich in Aktiengesellschaften umwandeln oder eine andere transitorische Form des Eigentums finden, etwa eine mit Gewinnbeteiligung der Arbeiter. Gleichzeitig und noch leichter würden die Kolchosen zerfallen. Der Sturz der heutigen bürokratischen Diktatur wäre also, wenn keine neue sozialistische Macht diese ersetzt, gleichbedeutend mit einer Rückkehr zu kapitalistischen Verhältnissen bei katastrophalem Rückgang von Wirtschaft und Kultur.“

Verratene Revolution

Stalinismus: Totengräber der Revolution, Totengräber der Arbeiterstaaten

Bei den Auflösungserscheinungen des Stalinismus über mehrere Jahrzehnte hinweg spielte der Generationswechsel eine wichtige Rolle, wie das auch bei der Zerstörung des proletarischen Bewusstseins durch die Stalinisten der Fall war. Das Regime aus Terror und Lügen trug viel dazu bei, den sozialistischen Idealismus unter den arbeitenden Massen auszumerzen. Ausgehend von der Theorie des „Sozialismus in einem Land“ verbreitete Stalin eine nationalistische Ideologie als die Grundlage für die Loyalität zum Staat. Russischer Nationalismus trug im Zweiten Weltkrieg zum Sieg der UdSSR über Hitler bei (nach einem anfänglichen Zusammenbruch der durch Stalins blutige Säuberung demoralisierten Armee, was den Nazis ermöglichte, über weite Teile des Sowjetterritoriums herzufallen).

Nach Stalins Tod 1953 war es der Sowjetbürokratie nicht mehr möglich, Massenterror als Waffe gegen politische Opposition oder wirtschaftliche Verbrechen einzusetzen. Als sich die wirtschaftliche Lage in der UdSSR und in Osteuropa von der Verwüstung des Krieges erholte, und nach einer Reihe von prosozialistischen Arbeiteraufständen und Protesten in der DDR, Ungarn und Polen, die die stalinistischen Regime bedrohten, waren die Chruschtschow-Jahre durch eine Politik der zunehmenden Produktion von Konsumgütern und durch allgemeines Anwachsen des Lebensstandards der Arbeiter gekennzeichnet. Die weitreichende Korruption der Breschnjew-Jahre unterminierte die übrig gebliebenen egalitären Werte in der Bevölkerung gravierend. Die darauf folgende Generation der Bürokratie, personifiziert durch Gorbatschow, spiegelte das wachsende Gewicht einer privilegierten Schicht von Bürokratenkindern, Technokraten und anderen Möchtegern-Yuppies in der sowjetischen Gesellschaft wider, die darauf aus waren, bei ihren Pendants aus der Harvard Business School in westlichen Großstädten aus- und einzugehen und einen vergleichbaren Einkommensstand zu erzielen. Angefangen mit „marktsozialistischen“ Experimenten, die als einziger Weg zur Wiederbelebung der sowjetischen Wirtschaft gerechtfertigt wurden (Arbeiterdemokratie war natürlich nie eine Alternative), besaß diese Schicht wenig an Widerstandskraft dagegen, sich der stalinistischen Ideologie völlig zu entledigen: Der „Sozialismus“ ist gescheitert, lang lebe der Kapitalismus. Als sich Gorbatschow als unfähig erwies, seine Schocktherapie des „Kapitalismus in 500 Tagen“ durchzupeitschen, wurde er durch den erbarmungsloseren exstalinistischen Bürokraten Jelzin ersetzt, der begierig versuchte, das Land an den amerikanischen Imperialismus zu verkaufen.

Das zentrale Ereignis der russischen Konterrevolution war Jelzins „Gegenputsch“ vom August 1991 gegen den vermurksten „Perestroika-Putsch“ früherer stalinistischer Leuchten. Praktisch all die antisowjetischen Pseudotrotzkisten jubelten entweder Jelzin offen zu bzw. benutzten die Gelegenheit, um zu erklären, dass der sowjetische degenerierte Arbeiterstaat nun auf der Stelle tot sei. Nur die IKL versuchte die Werktätigen der UdSSR zu mobilisieren, sich in einer politischen Revolution zu erheben, um die kapitalistische Restauration zu besiegen. Die IKL verteilte unseren Artikel „Sowjetische Arbeiter: Zerschlagt Jelzins/Bushs Konterrevolution!“ massenhaft in der ganzen Sowjetunion. Als es Jelzin gelang, seine vom Imperialismus unterstützte Machtergreifung für „Demokratie“ zu konsolidieren — und es nicht zum Massenwiderstand der Arbeiterklasse gegen die vordringende kapitalistische Konterrevolution kam —, bedeutete dies die endgültige Zerstörung des degenerierten Arbeiterstaats.

Jelzins Konterrevolution wurde durch die Einführung wirtschaftlicher Maßnahmen vorbereitet, die in Osteuropa als „Marktsozialismus“ und in Russland als Perestroika (Umstrukturierung) bekannt sind. Mit dem Einsatz marktorientierter „Reformen“ in Jugoslawien nahm Tito Gorbatschows Perestroika vorweg. Sie waren durch das Absterben der zentralisierten Planung gekennzeichnet und ließen zu, dass die Beziehungen zwischen Unternehmen hauptsächlich von Marktkräften bestimmt wurden. Eng verbunden mit der Abschaffung des staatlichen Außenhandelsmonopols war eine regionale Dezentralisierung, die einen mächtigen vielfachen Druck schuf, den multinationalen Charakter von Ländern wie Jugoslawien und der UdSSR aufzubrechen, denn die wohlhabenderen Republiken wurden durch die von den Marktkräften etablierten Austauschbedingungen begünstigt. Diese ökonomischen Faktoren verschafften reaktionären nationalistischen Ideologien einen riesigen Auftrieb, zumal — insbesondere wegen des Mangels an nennenswertem Kapital — der Nationalismus als Hauptrammbock für kapitalistische Restauration im exsowjetischen Block benutzt wurde, was direkt zu den grauenhaften, allseitigen „ethnischen Säuberungen“ auf dem Balkan und anderswo führte.

In unserer Propaganda warnten wir Spartakisten während dieser gesamten Periode vor der anti-egalitären Wirkung „marktsozialistischer“ Politik, der tödlichen Gefahr, das internationale Finanzkapital in die Wirtschaft der deformierten Arbeiterstaaten eindringen zu lassen, und vor dem Anwachsen nationalistischer Rivalitäten innerhalb dieser Staaten. In unserer Broschüre von 1981, Solidarnosc: Polish Company Union for CIA and Bankers [Solidarnosc: Polnische gelbe Gewerkschaft für CIA und Bankiers], machten wir die Stalinisten für die Zerstörung des historisch sozialistischen Bewusstseins des polnischen Proletariats verantwortlich. Unsere Analyse und Vorhersagen wurden eindrucksvoll durch die Ereignisse bestätigt, aber es kann nicht stark genug betont werden, dass es nicht in unserer Absicht lag, nur zu analysieren, sondern mit unserem revolutionären Programm einzugreifen, um für sozialistisches Bewusstsein zu kämpfen, um die sowjetischen und osteuropäischen Arbeiter zu mobilisieren, damit sie die verbliebenen Errungenschaften des Oktober gegen ihre äußeren und inneren Todfeinde verteidigen.

In unserer Broschüre „Marktsozialismus“ in Osteuropa, veröffentlicht im August 1989, erklärten wir:

„Das Programm des ,Marktsozialismus‘ ist im wesentlichen ein Produkt des liberalen Stalinismus. Selbstverwaltung und Selbstfinanzierung der Betriebe sind der Weg ins wirtschaftliche Chaos. Sie erzeugen Arbeitslosigkeit und Inflation, vergrößern die Ungleichheiten innerhalb der Arbeiterklasse und in der ganzen Gesellschaft, schaffen Abhängigkeit von internationalen Bankiers, verschärfen die nationalen Widersprüche und Konflikte und stärken enorm die Kräfte der kapitalistischen Restauration von innen...

Die Nationalitätenfrage hat im Zentrum der Politik von ,Selbstverwaltung‘ gestanden. Der gesellschaftliche Druck für immer weitere Dezentralisierung ist nicht von unten gekommen — von den Arbeitern in den Werkstätten —, sondern von den Bürokratien in Kroatien und Slowenien, den reicheren Republiken. Die ökonomischen Auswirkungen der Dezentralisierung wiederum haben in den ärmsten Regionen rabiaten nationalen Groll hervorgerufen, besonders in Kosovo, wo in Jugoslawien die albanische Nationalität konzentriert ist...

Die dezentralisierenden Maßnahmen der 60er Jahre änderten auch radikal die Wechselbeziehung zwischen der jugoslawischen Wirtschaft und dem kapitalistischen Weltmarkt. 1967 wurde es den Betrieben erlaubt, einen Teil der Devisen, die sie einnehmen, zu behalten. Seitdem ist das Gerangel um Devisen eine Hauptursache für regionalen/nationalen und zwischenbetrieblichen Konflikt gewesen, der manchmal zu offenem Wirtschaftskrieg führte...

Die stalinistischen Regime haben eine eigene Tendenz, die zentrale Planwirtschaft preiszugeben zugunsten von wirtschaftlichen Arrangements, die folgende wesentliche Merkmale tragen: Produktionsmenge und Preise werden bestimmt durch den atomisierten Wettbewerb zwischen einzelnen Betrieben; die Investitionshöhe sowie die Gehälter des Managements und die Löhne der Arbeiter sind an die Rentabilität des Unternehmens gekoppelt; unrentable Betriebe werden stillgelegt, das Ergebnis ist Arbeitslosigkeit; Preissubventionen werden abgeschafft, das Ergebnis ist eine höhere Inflationsrate; der Einfluß der kleinkapitalistischen Unternehmer wird erweitert, besonders im Dienstleistungssektor; verstärkte Wirtschafts- und Finanzbeziehungen zum westlichen und japanischen Kapitalismus, einschließlich Joint Ventures, werden gefördert. Diese Maßnahmen laufen nicht auf einen schleichenden Kapitalismus hinaus, wie es viele westliche bürgerliche Kommentatoren und auch nicht wenige konfuse Linke behaupten. Dennoch werden dadurch die inneren Kräfte für eine kapitalistische Konterrevolution gestärkt...

Im Rahmen des Stalinismus gibt es also eine innere Tendenz, die zentrale Planung und Leitung zu ersetzen durch Marktmechanismen. Da Manager und Arbeiter nicht der Disziplin der Sowjetdemokratie (Arbeiterräte) unterworfen werden können, sieht die Bürokratie die einzige Antwort auf die wirtschaftliche Ineffizienz immer mehr darin, die Wirtschaftsakteure der Disziplin marktwirtschaftlicher Konkurrenz zu unterwerfen. Die Wiederherstellung der Arbeiterdemokratie in der Sowjetunion ist kein bloßes abstraktes Ideal, sondern eine lebensnotwendige Bedingung für die Erneuerung der Sowjetwirtschaft auf einer sozialistischen Grundlage.“

Ein wiederhergestelltes revolutionäres Arbeiterregime in der UdSSR hätte dafür gekämpft, die Revolution auf die Bastionen des Weltimperialismus auszuweiten, als die notwendige Vorbedingung für die Errichtung des Sozialismus.

Das Wirtschaftsprogramm der Linken Opposition

Die Neue Ökonomische Politik (NEP) war ein vorübergehender Rückzug der Bolschewiki nach der Verwüstung durch den Bürgerkrieg in einer rückständigen, überwiegend bäuerlichen Ökonomie, in der die Industrie zusammengebrochen und völlig desorganisiert war. Die anfängliche NEP-Gesetzgebung, die unter Lenins direkter Anleitung ausgearbeitet wurde, erlaubte zwar freien Handel mit landwirtschaftlichen Produkten, beschränkte aber aufs Strengste die Einstellung von Arbeitskräften und den Landerwerb. Was jedoch als ein vorübergehender Rückzug begann, wurde später von Bucharin und Stalin in eine ständige Politik umgewandelt, die die Klasseninteressen der Bauernschaft widerspiegelte. 1925 wurden die Beschränkungen weitgehend liberalisiert mit Kurs auf eine Begünstigung des Wachstums eines landwirtschaftlichen Kapitalismus. Kulaken und „NEP-Leute“ wurden in der Partei willkommen geheißen, wo sie zu einem bedeutenden Flügel der nun aufsteigenden Bürokratie wurden.

Die Verfechter des „Marktsozialismus“ in Gorbatschows Russland blickten sehnsüchtig auf die NEP von Mitte bis Ende der 20er-Jahre zurück, deren ideologischer Repräsentant Nikolai Bucharin und deren Hauptvollstrecker sein damaliger Blockpartner Josef Stalin war. Bucharin forderte die Bauernschaft auf: „Bereichert euch!“, und erklärte, dass der Sozialismus „im Schneckentempo“ fortschreiten würde. Er beharrte darauf, dass das Wachstum der industriellen Produktion in der Sowjetunion von der Marktnachfrage der Kleinbauern nach Industriegütern bestimmt werden sollte.

In seinem Werk Von der NEP zum Sozialismus von 1922 war E.A. Preobraschenski für die Notwendigkeit einer „ursprünglichen sozialistischen Akkumulation“ eingetreten, um die Ressourcen für die Ausweitung der sowjetischen industriellen Basis auszubauen. Trotzkis Linke Opposition, der Preobraschenski angehörte, hielt schnelle Industrialisierung und zentrale Planung für unerlässlich. Schon im April 1923, in seinen „Thesen über die Organisierung der Industrie“, die dem 12. Parteitag vorgelegt wurden, wies Trotzki auf das Phänomen der „Scherenkrise“ hin (das Fehlen von ausreichenden Industriegütern für den Austausch mit landwirtschaftlichen Produkten, was die Bauern dazu veranlasste, den Städten Nahrungsmittel vorzuenthalten). 1925 warnte Trotzki: „Würde sich die staatliche Industrie langsamer als die Landwirtschaft entwickeln ... so würde dieser Prozeß zu einer Restauration des Kapitalismus führen“ (Kapitalismus oder Sozialismus?).

Der Historiker Alexander Erlich gibt die Parteidebatten in seinem klassischen Werk Die Industrialisierungsdebatte in der Sowjetunion 1924–1928 (deutsche Übersetzung 1971) wieder. Gegenüber der Politik von Bucharin/Stalin forderte die Linke Opposition eine stärkere Besteuerung der Kulaken, um die Industrialisierung zu finanzieren und für die „wohlüberlegte und allmähliche Überführung dieser zahlreichsten Gruppe [der Mittelbauern] zu den Vorteilen des maschinellen und kollektiven Großbetriebes“ (Plattform der Vereinigten Opposition, 1927). Die Linke Opposition war für die Beschleunigung des Industrialisierungstempos nicht nur, um die „Scherenkrise“ zu lindern, sondern vor allem auch, um das soziale Gewicht des Proletariats zu vergrößern.

Bucharins Politik nährte die Kräfte der sozialen Konterrevolution in der Sowjetunion. Die Politik der „Bereicherung“ der Kulaken führte, wie abzusehen war, nicht nur zu einer Verschärfung der Klassengegensätze auf dem Lande, wo die armen Bauern praktisch auf ihren vorrevolutionären Status als Pächter zurückgeworfen wurden, sondern auch zur Erpressung der Städte durch die Kulaken. Inzwischen hatten die NEP-Leute weiter an Macht gewonnen: Am Ende des Jahres 1926 arbeiteten fast 60 Prozent der gesamten industriellen Arbeitskräfte in privaten Kleinbetrieben unter der Gewalt von Kleinkapitalisten, die Zulieferung und Verteilung kontrollierten. 1928 organisierten dann die Kulaken Getreidestreiks und drohten nicht nur damit, die Städte auszuhungern, sondern auch die wirtschaftlichen Grundlagen des Arbeiterstaats selbst zu untergraben.

Stalin war der Führer der konservativen bürokratischen Kaste, die 1924 die Macht an sich gerissen hatte. Er fürchtete um die Zukunft seines Regimes, das sich auf den Eigentumsformen eines Arbeiterstaates erhoben hatte. Eine kapitalistische Restauration bedrohte die Grundlagen von Macht und Privilegien der Bürokratie und schied für sie als Möglichkeit aus. Er sah keinen anderen Ausweg, als um sich zu schlagen mit einer planlosen, schlecht durchdachten und brutalen Politik der Zwangskollektivierung, um die Macht der Kulaken zu brechen, und mit einer Industrialisierung im Gewaltmarsch. Indem er mit seinen eigenen Methoden und aus seinen eigenen Gründen versuchte, die Klassengrundlagen des Sowjetstaats als Arbeiterstaat zu erhalten, hatte Stalin keine andere Wahl, als entscheidende Teile des Programms der Linken Opposition zu übernehmen, das eine schnelle industrielle Entwicklung verlangte und dem er sich zuvor heftig widersetzt hatte. Folglich brach Stalin seinen Block mit Bucharin, dessen Wirtschaftspolitik geradewegs auf einen vollständigen Sturz des degenerierten Arbeiterstaates hinauslief. (Bucharin und seine ausgeschlossenen Anhänger wurden international als Rechte Opposition bekannt.)

Angesichts dieser Ereignisse ist es aufschlussreich, dass Cliff und Matgamna den Aufstieg ihrer jeweiligen „neuen herrschenden Klasse“ an die Macht (bzw. die kapitalistische Restauration) auf diesen Zeitraum datieren. Da aber Stalins Durchgreifen gegen die Kulaken 1928 die Restauration des Kapitalismus demonstrativ verhindert hatte, ist Cliff/Matgamnas Dreh- und Angelpunkt in Wirklichkeit Bucharin mit seinen Anhängern, deren Opposition zur stalinistischen Bürokratie von rechts kam. So stellen sie sich rückwirkend außerhalb und gegen Trotzkis Internationale Linke Opposition, die von Anfang an für die bedingungslose militärische Verteidigung der Sowjetunion eintrat.

Heute ist in China die Förderung mächtiger kapitalistisch-restaurativer ökonomischer Kräfte innerhalb des Gefüges eines Arbeiterstaates noch viel weiter fortgeschritten, als es in Titos Jugoslawien oder Gorbatschows Russland der Fall war. Viele der sozialen Errungenschaften der Chinesischen Revolution werden vernichtet, während die Arbeitslosigkeit zu ungeheuren Ausmaßen angestiegen ist: Staatliche Betriebe werden geschlossen oder privatisiert und das Außenhandelsmonopol wird untergraben. Die chinesische Bürokratie selbst ist ein Hauptteilhaber der Joint Ventures mit ausländischen Kapitalisten in den „Sonderwirtschaftszonen“. Aber die Bürokratie kann ihre Bestrebungen, die Geschichte zurückzudrehen, nicht gänzlich verwirklichen, ohne den Widerstand des chinesischen Proletariats zu brechen. Wieder einmal stellt sich die Alternative: entweder eine proletarisch-politische Revolution zur Verteidigung der vergesellschafteten wirtschaftlichen Basis des Staates oder vom Imperialismus unterstützte kapitalistische Konterrevolution.

Nachwort: Sean Matgamna, Epigone Shachtmans

Sean Matgamna scheint sein politisches Leben als Mitglied der stalinistischen Kommunistischen Partei begonnen zu haben, wurde aber 1959 für den vorgeblichen Trotzkismus gewonnen, den der inzwischen verstorbene Gerry Healy vertrat. Healys Organisation rekrutierte nach dem Ungarischen Arbeiteraufstand von 1956 eine ganze Schicht von Kadern der Kommunistischen Partei dadurch, dass sie für das trotzkistische Programm der proletarisch-politischen Revolution zur Verteidigung der antikapitalistischen Errungenschaften in den degenerierten und deformierten Arbeiterstaaten eintrat. Nachdem die Healy-Anhänger aus ihrem tiefen Entrismus in der Labour Party aufgetaucht waren, legten sie Ende der 50er- und Anfang der 60er-Jahre in ihren Zeitschriften wie Labour Review eine beeindruckende literarische Orthodoxie und Beherrschung marxistischer Literatur und Geschichte an den Tag. Dahinter verborgen war jedoch ein grundlegendes politisches Banditentum, das sich zuerst an internen bürokratischen Praktiken zeigte. Matgamna wurde 1963 von Healy ausgeschlossen, aber er brach erst ein Jahr später politisch mit ihm, als sich Healys Organisation von jeglicher Entrismus-Arbeit in der Labour Party lossagte. In den nächsten zwei Jahrzehnten machte Matgamna Entrismus, fusionierte oder flirtete mit fast jeder anderen Tendenz in Britannien, die sich als trotzkistisch ausgab, von Ted Grants Militant Tendency über Cliffs International Socialists zu den Pabloisten und Workers Power.

1979, inmitten des imperialistischen Gezeters über den Einmarsch der Roten Armee in Afghanistan, ließ Matgamnas Tendenz, die als International Communist League organisiert war, ihre papierne Position für die militärische Verteidigung der Sowjetunion fallen und behauptete, die Konsequenzen der sowjetischen Verteidigung der linksnationalistischen Regierung, die eine notdürftige Landreform durchführen und den Frauen Lesen und Schreiben beibringen wollte, seien „vorbehaltlos reaktionär“. Während der darauf folgenden Hysterie des zweiten Kalten Krieges johlte Matgamnas Gruppe, die tief im Sumpf der Labour Party versunken blieb, zusammen mit den Imperialisten für die antisozialistische, antisemitische Solidarnosc, unterstützte die kapitalistische Wiedervereinigung Deutschlands und ließ die Konterrevolutionen hochleben, die 1990/91 die deformierten Arbeiterstaaten Osteuropas und die Sowjetunion zerstörten.

Heute steckt Matgamnas Tendenz, die sich jetzt Alliance for Workers Liberty (AWL) nennt, immer noch bis zum Hals in der Labour Party — ja eigentlich in der New Labour Party, die Tony Blair in eine kapitalistische Partei umformen will, indem er ihre historische Verbindung zu den Gewerkschaften löst. Als gute Labour-Anhänger nehmen die AWLler ihren Platz an der Seite derer ein, die der kriecherischen Ergebenheit ihrem „eigenen“ Imperialismus gegenüber ein „Arbeiter“-Mäntelchen umzuhängen versuchen. Nirgendwo ist das offensichtlicher als in Nordirland, wo die Matgamna-Anhänger (zusammen mit Taaffes Militant Labour, die sich jetzt Socialist Party nennt) berüchtigt sind für ihre widerliche Vorliebe für faschistoide loyalistische Killer wie Billy Hutchinson, Führer der Progressive Unionist Party (PUP). Die AWL, die die PUP, eine Frontgruppe der Ulster Volunteer Force (UVF), obszönerweise als legitimen Vertreter der protestantischen Arbeiterklasse hinstellt, hatte bei ihren Veranstaltungen Hutchinson als Hauptredner und stellte ihm ihre Zeitschrift als Forum zur Verfügung. Auf einer AWL-Sommerschulung 1995 veranstaltete sie eine „Debatte“ mit Ken Maginnis, dem „sicherheitspolitischen“ Sprecher der Ulster Unionist Party und bezahlten Berater der Royal Ulster Constabulary. Natürlich weigert sich die AWL, den sofortigen Abzug der britischen Truppen aus Nordirland zu fordern, und plappert die imperialistische Lüge nach, die Truppen seien eine Art neutraler Vermittler zwischen den katholischen und protestantischen Gemeinden, nicht aber ein wesentlicher Teil der bewaffneten Gewalt der protestantischen Vormachtstellung.

Bei Ausbruch des NATO-Krieges gegen Serbien, des ersten größeren Krieges in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg, schwamm die AWL behaglich im Strom sämtlicher britischer Pseudolinker mit bei deren sklavischer Unterstützung der kapitalistischen Regierung von Blairs New Labour und ihrer Vorreiterrolle bei der aggressiven Unterstützung der NATO-Terrorbombardierung Serbiens und der Unterstützung der Kosovo-Befreiungsarmee (UCK), einer Marionette der NATO-Imperialisten. Die AWL ging so sehr in dem britisch/US-geführten NATO-Krieg auf, dass sie nicht einmal auf das Feigenblatt zurückgriff, an den „Stoppt-den-Krieg“-Demonstrationen teilzunehmen. Wofür sie aber mobilisierte, war eine Kosovo-Demonstration am 10. April 1999 in London, die die NATO-Bombardierung voll und ganz unterstützte. Von Anfang an, als selbst Tony Blair noch zögerte, rief Matgamna nach Bodentruppen: „Wenn NATO-Truppenlandungen dem völkermörderischen Feldzug des [sic!] Serben gegen die Kosovaren ein Ende bereiten, werden wir froh darüber sein ... Sozialisten können nicht einseitig die NATO und die USA verurteilen, ohne den völkermörderischen Imperialismus des serbischen Jugoslawiens entweder zu unterstützen oder ihm gegenüber gleichgültig zu sein“ („The Issues for Socialists“, Action for Solidarity, 2. April 1999). Heute hat die AWL — trotz all der Rhetorik über die „Unabhängigkeit für Kosovo“ während des Krieges — naturgemäß keine Einwände dagegen, dass der Kosovo von den imperialistischen NATO-Hauptmächten militärisch besetzt ist. Das war das Ziel der NATO von Anfang an.

In den 70er-Jahren hielt Sean Matgamna, obwohl er formell für die Verteidigung der Sowjetunion war, während seiner diversen politischen Erscheinungsformen die russische Frage für eine „zehntrangige“ Frage, unerheblich für die wirkliche Wesensart des britischen „Trotzkismus“, die — wie er zu Füßen von Gerry Healy und Ted Grant gelernt hatte — darin bestand, „die Labour-Linken zum Kämpfen zu bringen“. Doch die Illusion, dass die russische Frage keine Rolle spiele, war möglich nur während des kurzen Zeitfensters der „Entspannung“, als der US-Imperialismus, geschwächt von seiner Niederlage durch die vietnamesischen Arbeiter und Bauern, sich ein wenig Zeit erkaufen musste, bevor er wieder in die Offensive trat. 1979 nahm die US-imperialistische Carter-Regierung die Militärintervention der Sowjetunion in Afghanistan zur Verteidigung der modernisierenden linksnationalistischen Regierung zum Anlass, um den antisowjetischen „Menschenrechtskreuzzug“ zu eröffnen, der den Beginn des zweiten Kalten Kriegs markierte; Matgamna beeilte sich mitzumarschieren, zusammen mit praktisch dem gesamten Spektrum der pseudolinken Tendenzen, das auf den fahrenden antisowjetischen Zug aufsprang, auf die Seite der blutrünstigen islamischen Milizen und ihrer CIA-Paten. Plötzlich wurde die „zehntrangige“ Frage der Verteidigung der Sowjetunion zur zentralen Frage eines Treueschwurs zum britischen und zum internationalen Imperialismus.

Matgamnas Organisation kapitulierte vollends vor dem bürgerlichen Antisowjetismus, als sie 1988 die Position annahm, dass der Stalinismus eine neue Form der Klassengesellschaft darstelle, in der die Bürokratie eine „bürokratische staatsmonopolistische herrschende Klasse“ bilde. Die Postulierung einer neuen Form der Klassengesellschaft zwischen Kapitalismus und der Diktatur des Proletariats war im Wesentlichen eine Neuformulierung von Shachtmans „bürokratischem Kollektivismus“. Was den „Klein-England“-Antikommunismus von Labour angeht, so ist Matgamna sogar fanatischer als Cliff. Matgamna gräbt Shachtman wieder aus, weil er sich auf theoretischer Ebene von Cliffs SWP zu differenzieren genötigt sieht, die in Britannien das pseudotrotzkistische reformistische Terrain besetzt hält, auf das Matgamna es abgesehen hat. Matgamna ist außerdem so weit den Bach runtergegangen mit seinem krassen Sozialpatriotismus, dass ihn Shachtmans abstoßendes Ende nicht länger zurückhalten kann.

Natürlich ist der Shachtman, den man auf den Seiten von The Fate of the Russian Revolution: Lost Texts of Critical Marxism findet, dem Bild der heutigen „Tod-des-Kommunismus“-Linken entsprechend zurechtgestutzt. Der wirkliche Shachtman war eine zweideutige Figur — ein früher Kommunist und einer der Führer der SWP bei ihrer Gründung, sein Bruch vom Trotzkismus führte ihn in den Dienst unserer Klassenfeinde.

Wie wir schon gesehen haben, trat Shachtman in der Periode direkt nach seiner Abspaltung von Cannons SWP eher als Zentrist auf, der gelegentlich theoretische Probleme und Fälle des Zurückweichens in der trotzkistischen Bewegung korrekt von links kritisierte. Unsere Tendenz hat die Geschichte unserer Bewegung immer kritisch betrachtet und so haben wir jene Fälle anerkannt und daraus gelernt, wo die Workers Party gegenüber der SWP Recht hatte. Ein Beispiel war die Unfähigkeit der SWP im Zweiten Weltkrieg, als die USA die direkte Kontrolle über den Kampf gegen den japanischen Imperialismus in China übernahmen, zu sehen, dass damit der zuvor unterstützenswerte antikoloniale Kampf von Chiang Kai-sheks nationalistischen Truppen den Kriegsanstrengungen der alliierten Imperialisten untergeordnet wurde.

Besonders wichtig für authentische Trotzkisten ist die vernichtende Kritik der Shachtman-Anhänger an der „Proletarischen Militärpolitik“ (PMP). Die PMP, für die Trotzki selbst in hohem Maße Verantwortung trägt, stellt eine tief greifende Revision des Marxismus bezüglich der grundlegenden Frage des Klassencharakters des kapitalistischen Staates dar. Da die PMP nicht das Gebiet seiner eigenen entscheidenden Abweichung vom Marxismus betraf, konnte Shachtman 1940/41 manche korrekte Treffer gegen Cannon und die SWP landen (siehe insbesondere Shachtmans Polemik „Working-Class Policy in War and Peace“, zuerst veröffentlicht in der New International, Januar 1941, abgedruckt in unserer Prometheus Research Series Nr. 2, „Documents on the ,Proletarian Military Policy‘“, Februar 1989, veröffentlicht vom Archiv des Zentralkomitees der amerikanischen Sektion der IKL).

Die PMP wurde zuerst von Trotzki 1940 vorgeschlagen, in den letzten Monaten seines Lebens. Der Zweite Weltkrieg hatte in Europa schon begonnen und ein brutaler Luftkrieg tobte über Britannien, aber die Vereinigten Staaten waren noch nicht in den Krieg eingetreten, obgleich klar war, dass es dazu kommen würde. Die PMP war ein ungeduldiger und fehlgeleiteter Versuch, eine Brücke zwischen den tiefen antifaschistischen Gefühlen der Arbeiterklasse und dem revolutionären Programm für den Sturz des Kapitalismus zu finden. Sie bestand aus einer Reihe von Forderungen nach Gewerkschaftskontrolle der militärischen Ausbildung für die bürgerliche Armee. Diese Forderungen spielten in den ersten Jahren des Krieges eine große Rolle in der Propaganda der amerikanischen SWP und insbesondere der britischen Workers International League (WIL). Die Stoßrichtung der PMP war reformistisch — sie implizierte, dass es der Arbeiterklasse möglich sei, das Kernstück des bürgerlichen Staates, die Armee, zu kontrollieren. Sie stand im Widerspruch zum trotzkistischen Programm des revolutionären Defätismus gegenüber allen imperialistischen Kriegsparteien, besonders gegenüber dem „Hauptfeind“ im eigenen Land. Im Rahmen eines interimperialistischen Krieges, wo „Antifaschismus“ der hauptsächliche ideologische Deckmantel der angloamerikanischen Seite war, ging die PMP — wie Shachtman betonte — mühelos in Sozialpatriotismus über.

In den Vereinigten Staaten wurden 18 Führer der SWP und der Teamster-Gewerkschaft (Lastwagenfahrer) aus Minneapolis für ihre Opposition zum imperialistischen Krieg von der Regierung verfolgt und eingekerkert. Doch ihr Eintreten für die PMP nahm ihrer revolutionären defätistischen Propaganda gewissermaßen den Stachel. In England, wo real eine deutsche Invasion drohte, ging die WIL noch viel weiter in Richtung Sozialpatriotismus, wobei sie anfangs die Losung „Bewaffnet die Arbeiter“ aufstellte und eine Weichheit gegenüber den Kräften der Home Guard an den Tag legte. Die Propaganda der WIL forderte „Arbeiterkontrolle der Produktion“, um das „Chaos“ bei der Kriegsproduktion zu beenden; 1942 prahlte Ted Grant mit dem Sieg der britischen Achten Armee in Nordafrika und bejubelte sie als „unsere“ Armee. Erst 1943, als es offensichtlich wurde, dass das Lager der Alliierten den Krieg gewinnt, wurde die PMP sowohl in den USA als auch in Britannien obsolet.

Der einzige Bereich, wo Matgamna nicht mit Max Shachtman übereinstimmt, sind Shachtmans linke Kritiken an den orthodoxen Trotzkisten im Zweiten Weltkrieg. Matgamna unterstützt die PMP und bleibt bei seiner Befürwortung der militärischen Unterstützung für Chiang Kai-shek sogar nach dem Zeitpunkt, als dessen Streitkräfte den Kriegszügen der Alliierten untergeordnet worden waren. Als konsequenter Revisionist geht Matgamna sogar noch weiter und tritt offen für Sozialpatriotismus ein, „zumindest für Britannien und Frankreich“:

„Die Proletarische Kriegspolitik, wie sie von der SWP/USA und von WIL/RCP in Britannien erläutert wurde, war eine konfuse Mystifikation, die rational betrachtet auf revolutionären Defensismus hinauslief. Revolutionärer Defensismus bedeutet, dass die Revolutionäre den Krieg durchführen wollen, aber dabei nicht von ihrem Kampf ablassen, zur herrschenden Klasse zu werden. Darauf lief [das] hinaus, was die Trotzkisten oder wenigstens die meisten von ihnen sagten. Dies zurückzuweisen, weil sowohl Britannien als auch Deutschland imperialistisch waren, ist viel zu abstrakt.“

Workers Liberty, Juni/Juli 1999

Hier betet Matgamna anschaulich die bürgerliche Propaganda des Zweiten Weltkriegs über den Krieg der „Demokratie“ gegen den „Faschismus“ nach, während es in Wirklichkeit, wie der Erste Weltkrieg, ein Krieg zwischen konkurrierenden imperialistischen Bündnissen war. Ihm ist völlig klar und er macht es auch mehr als deutlich, dass er die PMP genau deshalb unterstützt, weil sie bürgerlichen Defensismus auf der Seite der Alliierten bedeutete. Somit gab es für Matgamna keine Grundlage für die Verteidigung der UdSSR gegen Nazideutschland, aber es war korrekt, Britannien und Frankreich zu verteidigen! Das ist antisowjetischer Sozialchauvinismus meisterhaft auf den Punkt gebracht, der in diesem Fall Matgamna irgendwo rechts von Winston Churchill ansiedelt. Indem Matgamna rückwirkend im Zweiten Weltkrieg mit dem Sozialpatriotismus den Schulterschluss vollzieht, legt er sich die historische Untermauerung für seine heutige feige Kapitulation vor dem britischen Imperialismus zu, der gerade eine Vorreiterrolle für die NATO beim ersten Krieg in Europa seit 1945 spielte.

Wie Shachtmans Stalinophobie eine Brücke zum Kalten Krieg unter der Führung der US-Imperialisten war, so öffnete die PMP in Britannien der Versöhnung mit dem rechten Flügel des Labour-Party-Reformismus und dem parlamentarischen Kretinismus Tür und Tor. Mit einem revolutionären Rückgrat, das weitgehend gebrochen war, hatten die englischen Trotzkisten den Illusionen in die kapitalistische Labour-Regierung von Major Attlee, die zur Eindämmung der massiven Unruhe unter den Arbeitern nach dem Krieg eingesetzt worden war, nichts mehr entgegenzusetzen. Bis 1949 hatten sich alle Flügel des vorgeblichen Trotzkismus in der Labour Party aufgelöst.

Der Labour-sozialdemokratische Kern des britischen Pseudotrotzkismus zeigte sich in vollem Umfang bei seiner Begeisterung für Solidarnosc, der gelben Gewerkschaft von Vatikan und Wall Street für die kapitalistische Konterrevolution in Polen. Im September 1983, während des jährlichen TUC-Gewerkschaftskongresses, veröffentlichte Gerry Healy in seiner News Line eine reißerische „Enthüllung“ über Arthur Scargill, der ein Brief Scargills zugrunde lag, in dem er zu Recht Solidarnosc als antisozialistisch verurteilt hatte. Damit wurde Scargill einer Orgie der Kommunistenhatz von Seiten der TUC-Spitzen und der bürgerlichen Presse ausgeliefert, was dazu benutzt wurde, die Bergarbeitergewerkschaft am Vorabend ihres heroischen Streiks von 1984/85 zu isolieren. Auf diese Weise bewiesen die Healy-Anhänger, dass sie für Margaret Thatchers Kampagne, die Bergarbeiter vernichtend zu schlagen und das Rückgrat der britischen Arbeiterbewegung zu brechen, von beträchtlichem Nutzen waren. Das ganze Aufgebot pseudotrotzkistischer Scharlatane in Britannien — von Healy über Cliff und Matgamna bis zu den Gruppen des pabloistischen Vereinigten Sekretariats — schloss sich zusammen, um Solidarnosc als die wahre Stimme der polnischen Arbeiterklasse zu bejubeln. Ihre tatkräftige Unterstützung von Solidarnosc war der konkrete Beweis ihrer gemeinsamen Akzeptanz des reformistischen Rahmens antikommunistischer, nationalistischer „Klein-England“-Labour-Politik. Während des Streiks machte sich Matgamnas Gruppe für nationale Wahlen stark, um die Labour Party unter Führung von Neil Kinnock — der von den streikenden Bergarbeitern weit und breit wegen seines streikbrecherischen Vorgehens verachtet wurde — an die Macht zu bringen. In einem schmutzigen Nachspiel sponserte Matgamnas Gruppe Socialist Organiser zusammen mit Workers Power die Tour eines russischen Faschisten, Juri Butschenko, der eng mit der CIA und der britischen MI6 zusammenarbeitete, bei dem Versuch, Scargill mit falschen Anschuldigungen über eine Veruntreuung von Geldern, die während des Streiks von sowjetischen Bergarbeitern gespendet worden waren, zu verleumden.

Auf britischem Terrain operierend, wo Antiamerikanismus schnellen Erfolg verspricht, versucht Matgamna sich von Shachtmans Unterstützung des US-Imperialismus in Vietnam und Kuba abzugrenzen und stellt fest, dass „dieses Ende Shachtmans für Sozialisten einen tiefen Schatten auf sein Andenken werfen muss“. Doch der unverwechselbare Fäulnisgestank von Matgamnas eigenem Sozialpatriotismus steigt aus Passagen seines Buches auf, wie der folgenden aus der Einleitung:

„In der Nachkriegswelt, als die UdSSR die zweite Großmacht der Welt war, gehörte die Erkenntnis, dass die USA und Westeuropa — der fortgeschrittene Kapitalismus — das fortschrittlichere der konkurrierenden Lager waren — das reichhaltigere Möglichkeiten bot, mehr Freiheit, mehr, worauf Sozialisten aufbauen konnten — meiner Meinung nach notwendigerweise zur Wiederherstellung eines marxistischen Gleichgewichts sozialistischer Politik.“

Das ist eine kriecherische Rechtfertigung der Verbrechen des britischen Imperialismus in Palästina, Irland, Griechenland, Zypern, Indien und Hongkong sowie der brutalen imperialistischen Kriege gegen den algerischen Unabhängigkeitskampf und die Vietnamesische Revolution. Nur ein selbstzufriedener Sozialdemokrat, der die Kämpfe der unterdrückten Massen in den von den westlichen imperialistischen Mächten geknebelten Ländern gänzlich verachtet, kann so etwas schreiben. Genauso erwähnt Matgamnas 156-seitige Einleitung, die vorgibt, ausführlich Trotzkis Kampf gegen den Stalinismus zu behandeln, mit keinem Wort den Kampf der Linken Opposition gegen Stalins Erdrosselung der zweiten Chinesischen Revolution in den Jahren 1925–27. Die permanente Revolution war nie Teil von Matgamnas angeblichem „Trotzkismus“. Er empfindet keinerlei Abscheu vor dem stalinistischen Programm der Klassenzusammenarbeit — er teilt es voll und ganz.

Gemeinsam mit der imperialistischen Bourgeoisie (und was das betrifft, mit den Stalinisten) setzt Matgamna die bolschewistische Partei von Lenin und Trotzki mit der stalinistischen bürokratischen Kaste gleich, die 1924 die Macht an sich riss und mit der falschen Lehre vom „Sozialismus in einem Land“ die ersten Schritte zum Selbstbewusstsein unternahm. Er setzt die Bürokratie von 1925–28 — ein Block aus den zentristischen Elementen um Stalin mit der Bucharin/Tomski-Fraktion, die einen versöhnlerischen Kurs gegenüber der kapitalistischen Restauration vertrat — mit der bürokratischen zentristischen Stalin-Clique an der Macht nach 1928 gleich. Und er setzt allesamt gleich mit dem antirevolutionären stalinistischen Apparat, der 1933 das deutsche Proletariat an Hitler auslieferte, ohne einen Schuss abzugeben. Damit erwies sich, wie Trotzki schrieb: „Die gegenwärtige Kommunistische Partei der Sowjetunion ist keine Partei, sie ist ein Verwaltungsapparat in den Händen einer unkontrollierten Bürokratie“ („Man muß von neuem kommunistische Parteien und eine Internationale aufbauen“, 15. Juli 1933). Kurz gesagt: Matgamna versucht absichtlich die Tatsache zu verschleiern, dass 1924 eine politische Konterrevolution stattgefunden hat, die den qualitativen Wendepunkt darstellte, nach dem die Stalin-Fraktion die beherrschende Kraft und die UdSSR ein degenerierter Arbeiterstaat wurde. Diese qualitative Wendung war verifizierbar — ein anderes Programm, ausgeführt von einer anderen Führung mit anderen, dem Bolschewismus fremden Methoden. Nach Matgamnas (und Kautskys) Ansicht entwickelte sich der Stalinismus organisch aus dem Leninismus, und die trotzkistische Linke Opposition war belanglos.

Tatsächlich war für Matgamna die Oktoberrevolution selbst die „Erbsünde“. In der Einleitung zu seiner Auswahl behauptet Matgamna: „Die Machtergreifung von 1917 stellte sich als eine Kamikaze-Übung heraus, nicht nur für die bolschewistische Partei in ihrer physischen Existenz, obgleich sie das letztendlich war, sondern Kamikaze für eine ganze politische Doktrin.“ Matgamna betet dieselben Argumente nach, die schon von Kautsky und den Menschewiki vorgebracht wurden, die seinerzeit behaupteten, dass Russland „wirtschaftlich nicht reif“ genug für die Machtübernahme des Proletariats wäre, eine nachträgliche Begründung für ihren abgrundtiefen Hass und ihre Angst vor der Arbeiterrevolution.

Matgamna erklärt geradeheraus, was in Wahrheit das wirkliche Programm aller revisionistischen Ex-Trotzkisten in Britannien ist: Opposition gegen neue Oktoberrevolutionen und Unterwürfigkeit zu Füßen der britischen Labour Party. Die politische Linie dieser Revisionisten, ob sie nun formal Mitglied der Labour Party sind oder nicht, reduziert sich bestenfalls auf den Standpunkt: „Bringt die Labour-Linken zum Kämpfen.“ Doch für Matgamna und seinesgleichen ist selbst das so etwas wie eine Fiktion geworden, wie ihre Unterstützung für den „demokratischen“ Imperialismus — in der Vergangenheit und in der Gegenwart — zeigt. Seine chauvinistische Unterstützung für die NATO-Bombardierung Serbiens siedelte ihn rechts von Labour-„Linken“ wie Tony Benn an. Im Gegensatz zu allen Pseudolinken kämpfen wir für die Schmiedung einer Partei mit einem revolutionären Programm, um die proletarische Basis von der bürgerlichen Führung der Labour Party zu brechen, als Teil einer revolutionären Strategie zum Sturz des Kapitalismus auf den britischen Inseln.

Als Shachtman seine Organisation in die Socialist Party der USA auflöste, schrieb er einen Artikel mit dem Titel „American Communism: A Re-Examination of the Past“ [Amerikanischer Kommunismus: Eine Neubewertung der Vergangenheit] (New International, Herbst 1957), wo er die Abspaltung der Kommunisten von der Sozialdemokratie beklagte. Diese Sehnsucht nach der alten amerikanischen Sozialdemokratie spricht Bände. Unter anderem musste Shachtman die Kardinalfrage der amerikanischen schwarzen Bevölkerung ignorieren — eine Frage, bei der der Unterschied zwischen der alten SP und der frühen KP qualitativ war. Dementsprechend übernahm Shachtman rückblickend 1957 den stillschweigenden Rassismus der amerikanischen Sozialdemokratie.

Shachtman hegte Sympathien für den jungen Lenin, bevor dieser seine Entwicklung von einem revolutionären Sozialdemokraten zu einem Kommunisten abgeschlossen hatte. Was Shachtman an Lenin, dem Kommunisten, wirklich hasste, war dessen Erkenntnis, dass eine politische Spaltung der Arbeiterklasse die notwendige Voraussetzung für eine proletarische Revolution war. 1920 kodifizierte die Komintern auf ihrem zweiten Kongress diese Absage an die kautskyanische „Partei der Gesamtklasse“. Die „Leitsätze über die Bedingungen der Aufnahme in die Kommunistische Internationale“ zogen eine scharfe programmatische Linie zwischen dem Kommunismus auf der einen Seite und den reformistischen (und speziell den zentristischen) Gegnern der Revolution auf der anderen.

Alle „staatskapitalistischen“ Theorien und alle Theorien einer „Neuen Klasse“ über die UdSSR — von Kautsky über Shachtman zu Cliff und Matgamna — hatten zum Ausgangspunkt die Suche nach einem illusorischen „dritten Lager“ zwischen Kapitalismus und Stalinismus, das, wie sich früher oder später (meist früher) herausstellte, unerschütterlich auf der Seite ihrer „eigenen“ Bourgeoisie angesiedelt war. Wir sind stolz darauf, dass wir bis an die Grenzen unserer Möglichkeiten gegangen sind, um die verbliebenen Errungenschaften des Oktober gegen Imperialismus und Konterrevolution zu verteidigen. Heute kämpfen wir für die bedingungslose militärische Verteidigung der noch existierenden deformierten Arbeiterstaaten: China, Kuba, Vietnam und Nordkorea. Wir sind für proletarisch-politische Revolution, um die stalinistischen Bürokratien, die diese Arbeiterstaaten an den Rand der kapitalistischen Konterrevolution gebracht haben, hinwegzufegen.

Trotzkis Voraussagen, dass sich der „Sozialismus in einem Land“ als bankrott erweisen würde — als ein Schritt zurück gegenüber den Möglichkeiten, die die Russische Revolution von 1917 für den Weltsozialismus eröffnet hatte —, haben sich in negativer Hinsicht bestätigt. Heute kämpfen wir dafür, Trotzkis Programm geltend zu machen durch neue Oktoberrevolutionen weltweit, indem wir das System des kapitalistischen Imperialismus zerschlagen und die proletarische Staatsmacht auf Weltebene errichten. Diese Aufgabe ist unermesslich schwerer geworden, seit die bolschewistische Revolution endgültig rückgängig gemacht wurde — was nicht nur den Stalinisten zu verdanken ist, sondern auch denen, die wie Cliff und Matgamna die Konterrevolution in anderen Ländern bejubelt haben, ebenso wie sie im eigenen Land den sozialdemokratischen Arbeiterbürokratien um den Hals fielen.

Heute setzen diese pseudolinken Gruppen ihre Strategie des Klassenverrats fort, indem sie in einem Dutzend europäischer Länder die sozialdemokratischen Regierungen unterstützen, die für Austerität, Rassismus und imperialistischen Krieg stehen. Sie sind Hindernisse auf dem Weg zum proletarischen Bewusstsein, die bloßgestellt und hinweggefegt werden müssen beim Aufbau der revolutionären trotzkistischen Parteien, die notwendig sind, um dem System des Kapitalismus in seinem Todeskampf ein Ende zu bereiten.

ICL Home Page